Nervenheilkunde 2025; 44(05): 263-278
DOI: 10.1055/a-2516-3808
Editorial

Von der Akademie zur Künstlichen Intelligenz

Wie Wissenschaft betrieben und kommuniziert wird
Manfred Spitzer

Wissenschaft in ihrer heutigen Form, Funktionalität und Vorgehensweise gibt es seit Mitte des 17. Jahrhunderts, mit der Gründung wissenschaftlicher Fachgesellschaften ab 1652 in Deutschland, England und Frankreich und der Einrichtung von Fachzeitschriften durch diese Gesellschaften ab 1665. Wie Analysen zeigen, stieg in den dreieinhalb Jahrhunderten danach die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen exponentiell an, wobei eine mittlere Anstiegsrate von knapp 3 % bis gut 4 % pro Jahr ermittelt wurde, was Verdopplungszeiten von 23,7 bzw. 17,3 Jahren entspricht. Während in der Wirtschaft meist „mehr“ mit „besser“ gleichgesetzt wird, ist dem in der Wissenschaft nicht so, wie eine sehr große bibliometrische Studie zeigen konnte: Mehr Publikationen in einem bestimmten Jahr und Wissenschaftsgebiet erschweren die Sichtbarkeit neuer Ideen und bewirken, dass immer wieder die gleichen Arbeiten zitiert werden. Eine Lösung des Problems könnte im Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) für die Generierung neuer Hypothesen bestehen. Es wird daher eine neu entwickelte KI vorgestellt – ein mit neurowissenschaftlichen Arbeiten weitertrainiertes großes Sprachmodell („large language model“, LLM) mit dem Namen BrainGPT, das Neurowissenschaftler beim Unterscheiden richtiger von falschen Ergebnissen in publizierten neurowissenschaflichen Arbeiten übertrifft. Ob KI die Publikationsflut eindämmen und die Sichtbarkeit von neuen Erkenntnissen erhöhen kann, lassen die Autoren allerdings offen.

Wahrscheinlich geht es vielen Kollegen in der Wissenschaft nicht selten ähnlich wie mir: Die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten steigt immer weiter an, weswegen es zunehmend Zeit braucht, auf dem Laufenden zu bleiben. Und daher gelingt dies immer weniger. So bemerke ich gelegentlich mit Entsetzen, dass mir irgendeine wichtige Erkenntnis/Entdeckung über längere Zeit hinweg (manchmal Jahre) entgangen ist. Es ist daher beruhigend, sich zu vergegenwärtigen, dass die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen tatsächlich exponentiell wächst. Die eigenen Fähigkeiten des Lesens und Verarbeitens dieser Literatur sind hingegen grundsätzlich beschränkt. Daher muss jeder irgendwann an seine Grenzen stoßen – das kann aus mathematischen Gründen nicht anders sein. Wie stark wächst unser „Wissen“ wirklich? Behindert dieses Wachstum möglicherweise den Fortschritt der Wissenschaft? Was ist überhaupt Wissen und wie schafft Wissenschaft Wissen?



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. Mai 2025

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