PPH 2025; 31(02): 103
DOI: 10.1055/a-2499-1371
Rund um die Psychiatrie

Für Sie gelesen: Aktuelle Studien

Gitte Herwig

Schlup N, Gehri B, Simon M. Prevalence and severity of verbal, physical, and sexual inpatient violence against nurses in Swiss psychiatric hospitals and associated nurse-related characteristics: Cross-sectional multicentre study. International Journal of Mental Health Nursing 2021; 30: 1550–1561. DOI:10.1111/inm.12905

Hintergrund: Gewalttätiges Verhalten von Patient*innen gegenüber Pflegenden ist in stationären psychiatrischen Behandlungssettings ein allgegenwärtiges Problem – allerdings variieren die Zahlen zur Häufigkeit der Vorkommnisse stark. Heterogene Definitionen von Gewalt und mangelnde Differenzierung der unterschiedlichen Gewaltformen werden als Gründe für diese Varianz vermutet. Erschwerend hinzu kommt, dass Fälle von sexueller Gewalt oft nicht dokumentiert werden. Darüber hinaus gibt es konträre Ergebnisse, wie bestimmte Attribute von Pflegenden, zum Beispiel Alter, Geschlecht und Berufserfahrung, mit dem Auftreten von Gewalt in Zusammenhang stehen. Die vorliegende Studie befasst sich daher sowohl mit der Frequenz und dem Schweregrad verbaler, körperlicher und sexueller Gewalt gegenüber Pflegenden als auch mit dem Zusammenhang zwischen bestimmten Merkmalen Pflegender und Gewaltvorkommen.

Methode: In der Querschnittsstudie wurden in der deutschsprachigen Schweiz 1128 Pflegefachpersonen aus 13 psychiatrischen Kliniken mit einem Fragebogen sowohl zu Gewalt gegen Gegenstände als auch zu ihren Erfahrungen mit körperlicher, psychischer sowie spezifisch verbaler und körperlicher sexueller Gewalt durch Patient*innen befragt, die im Zeitraum des vorangegangenen Monats stattgefunden haben. Die Anzahl schwerer gewalttätiger Übergriffe wurde über das gesamte Berufsleben hinweg erfragt.

Ergebnisse: Über den Zeitraum von 30 Tagen waren fast drei Viertel der Teilnehmenden mindestens einmal verbaler Gewalt ausgesetzt. Gewalt gegen Gegenstände beobachteten 63 % der Befragten. 39 % der Pflegenden erfuhren verbale sexuelle Gewalt und 14 % körperliche sexuelle Gewalt. Körperliche Gewalt betraf 28 % der Befragten. Fast 30 % der Pflegenden gaben an, während ihrer Tätigkeit in der Psychiatrie bereits einmal körperlich schwer verletzt worden zu sein.

Fazit: Es konnte ein direkter Bezug zwischen Alter, Geschlecht und dem Arbeitsdeputat von Pflegefachpersonen und der Häufigkeit von Gewalterfahrungen festgestellt werden. Für jüngere Frauen mit hohem Arbeitsdeputat und einer Berufserfahrung von weniger als drei Jahren ist die Gefahr eines verbalen sexuellen Übergriffs besonders hoch. Die Autoren postulieren, dass altbewährte Strategien, wie Deeskalationsmanagement oder Alarmgeräte, die von Patient*innen ausgehende Gewalt gegenüber Pflegenden nicht ausreichend reduzieren und fordern daher weiterführende Strategien zur Gewaltprävention für Pflegende in der Psychiatrie.

Gitte Herwig

Sollied SA, Lauritzen J, Damsgaard JB et al. Facilitating a safe and caring atmosphere in everyday life in forensic mental health wards – a qualitative study. International Journal of qualitative Studies on Health and well-being 2023; 18: 2209966. DOI:org/10.1080/17482631.2023.2209966

Hintergrund: Für die Fachkräfte in der forensischen Psychiatrie ist es eine Herausforderung, aufgrund des hohen Maßes an Sicherheit und Restriktion auch Raum für Normalität und eine individuelle Betreuung der Patient*innen zu gewährleisten. Ziel der Studie war es, zu untersuchen, welche Erfahrung Fachkräfte haben, um eine sichere und fürsorgliche Atmosphäre im Alltag der Patient*innen in forensisch-psychiatrischen Kliniken zu schaffen.

Methode: Es wurden 16 Fachkräfte mit Bachelorabschluss (Krankenpflegende, Ergotherapeut*innen, Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen) aus zwei verschiedenen forensischen Hochsicherheitsabteilungen eines Universitätskrankenhauses in Norwegen interviewt. Die Einzelinterviews wurden mit einer phänomenologisch-hermeneutischen Analysemethode nach Lindseth und Norberg (2022) ausgewertet. Diese umfasst die Schritte naives Lesen, Strukturanalyse und umfassendes Verständnis.

Ergebnisse: Es konnten zwei Hauptthemen analysiert werden. Das erste Hauptthema lautet „Schaffen einer beruhigenden Atmosphäre“ durch eine freundliche und fürsorgliche Präsenz der Fachkräfte, die Patient*innen Vertrauen, Trost und Vorhersehbarkeit vermittelt, damit sich diese entspannen und auf die Therapie einlassen können. Dazu gehören die Unterthemen „Schaffung einer fürsorglichen Umgebung mit Sicherheit, Komfort und Vertrauen“ und „Ausgleich der Aktivitäten des täglichen Lebens“. Das zweite Hauptthema „Erleichterung der Risikobewertung und Pflege“ legt dar, wie die Befragten durch das Vertrauen in ein vorbereitetes und unterstützendes Team ihre Besorgnis über ihre eigene Gefährdung und ihre Anfälligkeit für das Risiko von Gewalt verringern und ihre Aufmerksamkeit auf die Sicherheit, die Aufrechterhaltung einer beruhigenden Atmosphäre und die Notwendigkeit lenken, um auf die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen im Rahmen der Therapie und Pflege einzugehen. Dazu gehören die Unterthemen „Handeln im Team“, „Bewusstwerden der Bedeutung von Zeichen“ und „Bewusstwerden der Verletzlichkeit des Window of Tolerance“. Letzteres wurde von den Studienteilnehmenden metaphorisch verwendet, um die individuellen Grenzen der Patient*innen in Pflege- und Therapiesituationen zu erklären.

Fazit: Fachkräfte können den Genesungsverlauf ihrer Patient*innen wesentlich unterstützen. Ausgewählte Personen sollten mit den Patient*innen interagieren, um mit der Biografie, Vulnerabilität und dem „Toleranzfenster“ des jeweiligen Patienten vertraut zu sein. Dieses Wissen ist bedeutungsvoll, um die Gewaltrisiken zu verringern.

Gitte Herwig



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Article published online:
24 March 2025

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