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DOI: 10.1055/a-2341-8336
Kommentar: Beratung nach pränatalen Diagnosen: Sorgen wir für Informationen aus erster Hand!
Seit nichtinvasive Pränataltests (NIPT) in Deutschland zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gehören, ist die vorgeburtliche Diagnostik auf Chromosomenanomalien von der Ausnahme fast zur Regel geworden. Von Juli 2022 bis Juni 2023 wurden ca. 63000 NIPT pro Quartal als Kassenleistung in Anspruch genommen. Das entspricht einem Test auf 2,5 Geburten. Zugleich stieg die Zahl der gemeldeten Schwangerschaftsabbrüche deutlich [1]. Anders als vom Gesetzgeber gedacht werden NIPT inzwischen als Screening-Verfahren genutzt, das vermutlich in vielen Fällen über Leben und Tod eines ungeborenen Kindes entscheidet – am häufigsten eines Kindes mit Trisomie 21.
Hängt also in unserem Land, wo doch bei jeder Gelegenheit das Lob der Vielfalt erklingt, das Lebensrecht noch ungeborener Menschen davon ab, ob das Chromosom 21 zwei- oder dreifach vorhanden ist? Am 24. April 2024 diskutierte der Bundestag einen fraktionsübergreifenden Antrag mit dem Titel „Kassenzulassung des nichtinvasiven Pränataltests – Monitoring der Konsequenzen und Einrichtung eines Gremiums“ (Drucksache 20/10515), den die Abgeordneten schließlich an den federführenden Gesundheitsausschuss überwiesen [2]. Hinzu kommt das weithin fehlende Bewusstsein, dass ein NIPT in der Frühschwangerschaft nicht die DNA des Fetus, sondern des Trophoblasten (also der Plazenta) untersucht, was je nachdem, welche Anomalie entdeckt werden soll, mit einem positiven prädiktiven Wert von teilweise unter 50% einhergeht [3] [4]. Falsch-positive NIPT-Ergebnisse könnten ein Grund für die steigende Abbruchrate im ersten Trimenon sein, wenn Schwangere die erst später mögliche Verifizierung des Befundes – an mittels Amniozentese gewonnenen kindlichen Zellen – nicht abwarten wollen [5]. Die erneute Debatte über ein Screening auf nicht therapierbare genetische Normabweichungen tut not, aber verlangt die geschilderte Entwicklung nicht ebenso dringend nach einer besseren Beratung Schwangerer, die Testbefunde erhalten und innerlich verarbeiten müssen? Im Vorstand der DGPM sind wir uns einig, dass dies unsere Fachgesellschaft in besonderer Weise betrifft.
Laut dem Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG § 2a) ist bei der Eröffnung einer kritischen Diagnose eine Schwangere von ihrer Ärztin oder ihrem Arzt unter Hinzuziehung von Fachärzten, „die mit dieser Gesundheitsschädigung bei geborenen Kindern Erfahrung haben“, zu beraten [6]. In der Praxis ergeben sich für Pränataldiagnostiker oft Schwierigkeiten, kurzfristig einen Facharzt zu finden, der tatsächlich mit Betroffenen zu tun hat und sich genug Zeit für die Weitergabe seiner Erfahrungen an die Ratsuchende nehmen kann. Nicht alle Frauenärzte haben unmittelbar Zugang zu Expertennetzwerken.
Oft wäre es der beste Weg für die Schwangere, selbst eine Familie kennenzulernen, in der ein Kind mit der betreffenden Beeinträchtigung lebt, denn so erhielte sie Informationen aus erster Hand. Viele Familien, ob als Teil einer Selbsthilfegruppe oder als private Ansprechpartner, sind dazu bereit. Deshalb gehört zu jedem meiner Beratungsgespräche das Angebot, direkten Kontakt zu einer solchen Familie zu vermitteln. Das gilt für häufige Diagnosen wie Trisomie 21 und in noch stärkerem Maße für die seltenen.
Anfang 2013, kurz nach der Zulassung der ersten NIPT in Deutschland, entstand die Bayerische Down-Syndrom-Initiative „Eltern für Eltern“. Hintergrund dieser Initiative war die gesellschaftliche Debatte um den PraenaTest®, die auch in der Ärzteschaft geführt wurde [7]. Engagierte Eltern erstellten einen Flyer, mit welchem der von Pränatalmedizinern, Humangenetikern und Pädiatern artikulierte Bedarf gedeckt werden sollte, Schwangeren unkompliziert den Kontakt zu Kindern oder Jugendlichen mit Trisomie 21 und ihren Eltern zu ermöglichen. Die zahlreichen Familien, die hier ihre Telefonnummern und E-Mail-Adressen veröffentlichten, waren und sind offen für jeden, der sich meldet [8].
Als Mitglied des Medizinischen Beirats der Elterninitiative durfte ich anschließend die Erfahrung machen, dass dieser Flyer von den Pränataldiagnostikern und ihren Patientinnen sehr gern angenommen wird und tatsächlich „eine Lücke füllt“. Zwischen 2015 und 2023 nahmen 78 von 109 Schwangeren, in deren Beratung nach Übermittlung der Trisomie-21-Diagnose ich als Kinderarzt eingebunden war, Kontakt zu einer der im Flyer verzeichneten Familien auf: mehr als 70%! Nur eine einzige Frau entschied sich danach für den Abbruch der Schwangerschaft. Von den übrigen 77 Müttern haben etliche inzwischen selbst wieder Schwangeren in einer ähnlichen Situation Einblick in den Familienalltag ihres Kindes mit Extrachromosom gewährt.
Diese positiven Erfahrungen machten Mut, die enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit von Pränataldiagnostikern und Neonatologen in der DGPM für eine neue Arbeitsgruppe zu nutzen, die seit April 2024 aktiv ist. Sie hat das Ziel, Wege aufzuzeigen, wie bundesweit die pränatale Beratung um die Perspektive von Familien, in denen ein betroffenes Kind lebt(e), und/oder von ausgewiesenen Experten für die jeweilige Krankheit ergänzt und damit verbessert werden könnte – insbesondere bei seltenen oder schwerwiegenden Diagnosen. Zwar ist die gemeinsame Beratung von Eltern vorgeburtlich erkrankter Kinder vielerorts schon Alltag, aber sie bleibt ausbaufähig.
Als gutes Beispiel mag hier das Vorgehen bei pränatal erkannten Herzfehlern dienen: Die Einbeziehung von Kinderkardiologen, die den Behandlungsplan entwerfen, und der Verweis auf Patientenorganisationen sind heute selbstverständlich. Festlegungen zum prä- und perinatalen Management werden in interdisziplinären Besprechungen von Gynäkologen, Neonatologen und weiteren Spezialisten getroffen. Kontakte zu Betroffenen herzustellen, bereitet selten Mühe. Ähnliches wäre auch für andere Krankheitsgruppen erstrebenswert.
In unserer Arbeitsgruppe, die aus vier Vorstandsmitgliedern der DGPM besteht (Prof. Dr. Brigitte Strizek, Prof. Dr. Angela Köninger, Priv.-Doz. Dr. Angela Kribs und Prof. Dr. Holm Schneider), werden als konkretes Unterstützungsangebot für pränatale Beratungen aktuell folgende Vorschläge diskutiert:
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Erstellung einer Liste von Ansprechpartnern für Schwangere und/oder Pränataldiagnostiker im Falle seltener Diagnosen (Kolleginnen und Kollegen, die in medizinischen Beiräten einschlägiger Patientenorganisationen bzw. Elterninitiativen engagiert sind, Erfahrung mit dem jeweiligen Krankheitsbild haben und zur direkten, notfalls telefonischen Beratung Schwangerer sowie zur Vermittlung von Kontakten zu betroffenen Familien bereit wären).
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Weiterleitung von Beratungsanfragen über den geschützten Mitgliederbereich der DGPM und rasche Vermittlung eines auf der Liste genannten Ansprechpartners – unter Einbeziehung aller interessierten ärztlichen Lotsen der Zentren für Seltene Erkrankungen.
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Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM), um unser Angebot möglichst vielen Pränataldiagnostikern und niedergelassenen Frauenärzten, insbesondere jenen ohne unmittelbaren Zugang zu Experten für seltene Krankheiten, bekanntzumachen.
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Regelmäßige Fortbildungen zu guter vorgeburtlicher Beratung, die bekanntlich auf vielen Säulen ruht ([Abb. 1]), und nicht nachlassendes Bemühen um Integration des Themas in das Medizinstudium.
Weitere Vorschläge und Rückmeldungen zu dieser Initiative an den Vorstand der DGPM sind herzlich willkommen!
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
22. Juli 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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Literatur
- 1 Aerzteblatt.de. Mehr Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland (11.09.2023). Im Internet: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/145862/Mehr-Schwangerschaftsabbrueche-in-Deutschland; Stand: 09.06.2024
- 2 Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 20/165, S. 21212A–21220D (24.04.2024). Im Internet: https://dserver.bundestag.de/btp/20/20165.pdf; Stand: 09.06.2024
- 3 Martin K, Dar P, MacPherson C. et al. Performance of prenatal cfDNA screening for sex chromosomes. Genet Med 2023; 25: 100879 DOI: 10.1016/j.gim.2023.100879.
- 4 Dar P, Jacobsson B, MacPherson C. et al. Cell-free DNA screening for trisomies 21, 18, and 13 in pregnancies at low and high risk for aneuploidy with genetic confirmation. Am J Obstet Gynecol 2022; 227: 259.e1-259.e14 DOI: 10.1016/j.ajog.2022.01.019.
- 5 Liehr T, Weise A. Schwangerschaftsabbrüche: Falsch positive Ergebnisse. Dtsch Ärztebl. 2023 120. . A-1589/B-1355
- 6 Binkhoff T, Schneider H. „Kunstfehler“ in der Schwangerenberatung? Eine Analyse von Erfahrungsberichten zur Pränataldiagnose Trisomie 21. Jahrbuch Ethik in der Klinik 2013; 6: 111-134
- 7 Klinkhammer G, Richter-Kuhlmann E. Praenatest: Kleiner Test, große Wirkung. Dtsch Ärztebl. 2013 110. A-166 / B-152 / C-152
- 8 Flyer der Bayerischen Down-Syndrom-Initiative „Eltern für Eltern“. Bayer Ärztebl. 2013 3. 102