Z Orthop Unfall 2024; 162(04): 335-336
DOI: 10.1055/a-2302-6927
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

Interview mit Prof. Dr. med. Christoph-Eckhard Heyde, geschäftsführender Klinikdirektor, Bereichsleiter Wirbelsäulenchirurgie, Leiter des Kinderwirbelsäulenzentrums und Medizinischer Leiter des Zentrums zur Erforschung der Stütz- und Bewegungsorgane (ZESBO) aus Leipzig

Frank Lichert
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Abb. 1 Prof. Dr. med. Christoph-Eckhard Heyde

Kommt Künstliche Intelligenz (KI) in Ihrem klinischen Alltag bereits zum Einsatz?

Wir nutzen in der Orthopädie und Unfallchirurgie beispielsweise im Rahmen der robotergestützten Chirurgie und zur Navigation intelligente Kapazitäten. IT-Systeme kommen bei der präoperativen Planung eines chirurgischen Eingriffs zur Anwendung, mit dem Ziel, die Operationsergebnisse patientenspezifisch zu planen. Hier werden Rechenleistungen realisiert, die einer KI entsprechen. Klassische KI-Systeme, im Sinne von Systemen, welche therapeutische Empfehlungen geben, finden bei uns in der Praxis derzeit noch keine Verwendung.

Was sind die möglichen Einsatzgebiete für KI in der Medizin?

Ein Beispiel ist die Diagnostik. Hier finden im großen Maßstab Patientendaten Verwendung, anhand derer eine KI unter wissenschaftlicher Kontrolle „trainiert“ wird. Hierbei handelt es sich – und das ist ganz wichtig – um standardisierte und überarbeitete Daten, etwa Röntgendaten. Auf deren Basis kann KI mit hoher Sicherheit z. B. Tumoren erkennen oder zumindest auf Anomalien hinweisen. Letztere werden dann von einem erfahrenen Radiologen oder einer erfahrenen Radiologin einer genaueren Begutachtung unterzogen. Eine KI ist auch in der Lage, mehrdimensionale operative Szenarien für die navigierte roboterassistierte Chirurgie zu entwickeln, was mit einer herkömmlichen digitalen Bildverarbeitung so nicht möglich wäre.

Ist es nicht riskant, die Entwicklung einer Behandlungsstrategie der KI zu überlassen?

Es ist ganz klar, die letzte Entscheidung liegt immer beim Arzt oder bei der Ärztin. Die KI macht zunächst Vorschläge, die sehr plausibel sind, da sie, wie bereits erwähnt, auf einer großen Menge an trainierten Daten beruhen. Der Entwicklung von KI, die auf die Erkennung oder sogar Klassifikation von pathologischen Veränderungen an der Wirbelsäule trainiert wurde, liegen oft mehrere Tausend anonymisierte Bilddatensätze zugrunde, bei denen Patienten und Patientinnen mit gewissen Merkmalen erfasst wurden. Sie kennen als Arzt oder Ärztin die Bereiche, innerhalb derer sich eine gesunde Wirbelsäule bewegen sollte. Unter Berücksichtigung der Patientendaten nimmt die KI nun eine Klassifizierung der Patienten und Patientinnen vor. Sie definiert quasi einen patientenspezifischen Korridor, auf diese Weise können Abweichungen von der Norm schnell und sicher erkannt werden. Die Aufgabe des Arztes oder der Ärztin besteht nun darin, diese Ergebnisse auf Basis der individuellen Erfahrung zu bewerten. Es ist wichtig festzuhalten, dass die abschließende medizinische Bewertung eines Falles von einem Arzt oder einer Ärztin vorgenommen wird. Die KI reduziert aber die Arbeitsbelastung enorm.

Wie ist die rechtliche Situation hinsichtlich des Einsatzes von KI in der Orthopädie und Unfallchirurgie?

In den Leitlinien ist hinterlegt, dass beispielsweise im Bereich der Endoprothetik der Hüfte und des Knies eine präoperative Planung erfolgen muss. Diese muss auch dokumentiert werden und sollte in digitaler Form vorliegen. Hierzu existieren KI-basierte Programme, die dem Arzt oder der Ärztin bei der Therapieplanung helfen. Er oder sie darf auf ein solches KI-Programm zurückgreifen. Es besteht aber aktuell keine Pflicht, dies zu tun. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass eine KI immer auf wissenschaftlicher Basis evaluiert werden muss.

Wo in der Medizin spielt KI noch eine Rolle?

Im Rahmen der Auswertung von Bildgebungsdaten, also Röntgen-, CT- und MRT-Daten, werden Systeme eingesetzt, die auf KI beruhen. Das besondere an KI-basierten Werkzeugen gegenüber einer rein visuellen Beurteilung ist, dass KI mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vorhandene Unregelmäßigkeiten findet. Der menschliche Faktor spielt hier keine Rolle. Der Mediziner oder die Medizinerin kann daraufhin genauer hinschauen, um eine entsprechende Verdachtsdiagnose abzuklären. Ein konkretes Beispiel in der Orthopädie und Unfallchirurgie stellt die Bewertung der Arthrose des Kniegelenks dar. Es existieren klare Kriterien, wie eine Arthrose zu klassifizieren ist, beispielsweise durch die Breite des Gelenkspaltes, das Vorhandensein von Verdichtungen im Knochen, Unregelmäßigkeiten an der Oberfläche usw. Eine KI kann anhand dieser Kriterien trainiert werden und ist so in der Lage, exakt zu bestimmen, in welchem Stadium sich die Arthrose gerade befindet – und dies in sehr kurzer Zeit.

Ist ein erfahrener Orthopäde oder eine Orthopädin dazu nicht auch in der Lage?

Gewiss doch. Aber denken Sie beispielsweise an junge Mediziner und Medizinerinnen, die noch wenig Erfahrung besitzen oder an Zwischenbefunde, die Interpretationsspielraum lassen. Hier kann die KI eine wertvolle Hilfestellung bieten und auch die Ausbildung unterstützen. Ein zentraler Punkt ist die Zeitersparnis, die mit der Nutzung von KI-Systemen einhergeht. Wertvolle Dienste vermag eine KI ebenfalls in ungewöhnlichen medizinischen Situationen zu leisten. Also beispielsweise im Fall von pathologischen Veränderungen, mit denen der Arzt oder die Ärztin nur selten in Kontakt kommt. Sind solche Situationen in einer KI hinterlegt, kann diese eine Warnung herausgegeben. Die genaue Evaluation der Problematik liegt dann natürlich wieder in den Händen des Arztes oder der Ärztin. Es ist aber zumindest sichergestellt, dass nichts übersehen wird.

Welchen Forschungsbedarf sehen Sie für KI in der Medizin?

Ein wichtiger zukünftiger Anwendungsbereich von KI betrifft die individuelle Prognosestellung auf Basis einer umfassenden Datenerhebung, etwa im Fall von Tumorpatienten oder Tumorpatientinnen. Zunächst werden zu dieser Patientengruppe umfassend Daten gesammelt, beispielsweise zu körperlichen Merkmalen, der Krankenvorgeschichte oder dem Tumorstadium und den Tumoreigenschaften. Die Hoffnung ist, dass eine KI irgendwann in der Lage sein wird, für einen bestimmten Patienten oder eine bestimmte Patientin eine individuelle Prognose zu erstellen und im Idealfall eine sinnvolle Therapie vorzuschlagen. Beispiel Osteoporose: Bei Frauen steigt mit zunehmendem Alter das Risiko für osteoporotische Wirbelfrakturen. Allerdings ist dieses Risiko individuell sehr verschieden ausgeprägt und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Zu diesen gehören z. B. das Stadium der Osteoporose, aber auch die Ausbildung der Muskulatur oder die Bandscheiben- und/oder Gelenkabnutzung. Ohne digitale Unterstützung ist es sehr schwer, all diese Faktoren angemessen zu gewichten. Mit KI gelingt dies deutlich besser. Parallel wird intensiv nach Kriterien gesucht, die für oder gegen eine bestimmte Behandlung sprechen, auch dies fließt in die zu entwickelnden KI-Systeme ein. Durch KI können in kurzer Zeit große Datenmengen verarbeitet werden, was uns in der Zukunft hoffentlich dabei helfen wird, optimale individuelle Therapieentscheidungen zu treffen.

Dies funktioniert zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht?

Es existieren bereits erste Ansätze zu den Themen Prognosestellung und Therapieempfehlung, diese sind aber noch nicht so weit entwickelt, dass man sie verbindlich in der klinischen Praxis nutzen kann. Wir befinden uns hier maximal im Stadium der wissenschaftlichen Erprobung.

Welche Vorteile bietet KI noch gegenüber herkömmlichen IT-Systemen?

Ich möchte dies an folgendem Beispiel erläutern. Im Zuge der Einführung der Navigation in der Kniechirurgie erhoffte man sich eine grundlegende Verbesserung der Behandlungsergebnisse. Diese Hoffnung hat sich partiell allerdings nicht vollumfänglich erfüllt. Was man jedoch gut nachweisbar erreicht hat, war die Anzahl der ohnehin seltenen Ausreißer bezüglich der optimalen Beinachse deutlich zu reduzieren. Ähnliches ist meiner Meinung nach auch im Fall der KI zu erwarten. Diese Technologie wird uns dabei helfen, die Vielzahl von Einflussfaktoren bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten besser zu sortieren und zu bewerten. Damit kommen wir unserem großen Ziel, der personalisierten Medizin, wieder einen Schritt näher.

Wo sehen Sie die Grenzen von KI?

KI-Systeme sind lernfähig, sie werden mit der Zeit immer besser und die Ergebnisse zielgenauer. Was eine KI allerdings niemals ersetzen kann, ist das persönliche Gespräch und damit die direkte Interaktion zwischen dem Arzt oder der Ärztin und dem Patienten oder der Patientin. Hier erhalten der Arzt und die Ärztin wichtige Informationen, die von einem digitalen System nur schwer zu erfassen sind. Denken Sie beispielsweise an psychische Erkrankungen wie Depressionen, die einen erheblichen Einfluss auf die Prognose und die Therapieentscheidung bei Erkrankungen am Stütz- und Bewegungsapparat haben können. Hinzu kommen noch die Patienten und Patientinnen mit ihren persönlichen Wünschen – ein ganz entscheidender Punkt im Rahmen der Behandlung. Stellen Sie sich vor, die KI empfiehlt eine bestimmte Behandlung, die der Patient oder die Patientin aber ablehnt, dies können sie nicht einfach ignorieren. Es kommen immer verschiedene Faktoren zusammen, die Einschätzung des Arztes oder der Ärztin, die Empfehlung der KI und der Patientenwille. Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang eine eingehende Beratung und Aufklärung des Patienten oder der Patientin.

Welche Rolle spielt der Datenschutz bei der Nutzung von KI in der Medizin?

Eine fundamentale Rolle. Es darf nicht passieren, dass ein Patient oder eine Patientin sekundär über die hinterlegten Daten identifizierbar wird. Allerdings existieren heute bereits sichere Lösungen, um Patientendaten zu anonymisieren, zusammenzuführen und zu verarbeiten. Wir benötigen große Datenmengen, um eine KI sinnvoll zu trainieren – dies wurde bereits thematisiert. Die negativen Folgen für die KI-Forschung wären unabsehbar, falls diese Möglichkeiten nachhaltig eingeschränkt würden.

Die Fragen stellte Dr. Frank Lichert.



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Article published online:
08 August 2024

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