Neonatologie Scan 2024; 13(03): 165-166
DOI: 10.1055/a-2296-4421
Editorial

Neues zum alten Thema Neugeborenenikterus

Axel Hübler
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Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

der ganz normale Klinikalltag in der Neonatologie macht Arbeit, vor allem in der Standard-Routine. Dazu gehören Blutzucker- und Bilirubinkontrollen, vor allem bei gesunden Neugeborenen auf den Wöchnerinnenstationen. Bedeutsamer als unsere Arbeit sind die damit verbundenen Labor-Kosten, die längere Aufenthaltsdauer von Mutter und Kind, und – vor allem – die dadurch verursachten Schmerzen beim Neugeborenen und die Irritationen der Eltern.

In Mutter-Kind-Einheiten beträgt die Häufigkeit von Bilirubinkontrollen etwa 50 pro 100 Patiententage [1]. Das heißt, nimmt man die Verweildauer von durchschnittlich 3 Tagen und die Häufigkeit des Ikterus bei 50% aller reifen Neugeborenen, so haben diese im Schnitt 3 Bilirubinkontrollen bis zur Entlassung nach Hause.

Die Einführung von häufigen transkutanen Bilirubinmessungen hat nach unterschiedlichen Beobachtungen zu einer Zunahme auch von blutigen Kontrollen geführt, die jedoch überwiegend unterhalb der Behandlungsgrenze lagen. Aber auch schnelle Bilirubinanstiege sorgten für ein gewisses Maß an Überdiagnostik.

Die alte Leitlinie der American Academy of Pediatrics (AAP) von 2004 war bisher, auch in Deutschland, der Gold-Standard für Bilirubindiagnostik und Fototherapie. Nach neueren Daten aus den Jahren 2014 und 2015 – unter anderem eine dänische Langzeituntersuchung – sind jedoch deutlich erhöhte Bilirubinwerte weniger gefährlich, als früher angenommen: das Risiko für eine chronische Bilirubin-Enzephalopathie belief sich auf 0,8 pro 100 000 Geburten. Das wären etwa 6 Fälle pro Jahr in ganz Deutschland! Dennoch sollte die Gefahr, insbesondere bei hämolytischen Ursachen des Ikterus, sowie anderen, gut bekannten Risikofaktoren keinesfalls bagatellisiert werden.

Bereits 2009 hatte eine Aktualisierung der AAP-Leitlinie die standardmäßige Bilirubinkontrolle vor Entlassung, entweder transkutan oder aus einer kapillären Blutprobe, empfohlen [2], aus der sich ein Schema für eine engmaschige Nachkontrolle ergab. Daraufhin konnte in drei groß angelegten Studien ein Rückgang der bedrohlichen Hyperbilirubinämie mit Werten ≥ 30 mg/dl festgestellt werden.

Den neuen Erkenntnissen hat die Änderung der AAP-Leitlinie von 2022 Rechnung getragen [3]. Die Fototherapie-Grenzwerte wurden nur wenig angehoben, nämlich um etwa 1–2 mg/dl, mit einer Präzisierung auf Basis des Alters in Stunden, und die „Eskalation“ der Therapie wurde genauer definiert. Auch die Risikofaktoren für eine Hyperbilirubinämie und insbesondere eine Neurotoxizität wurden präzisiert, und flossen in den Serumbilirubin-Grenzwert ein. Die transkutane Messung avancierte zum Standardverfahren. Besonders die Inspektion des komplett unbekleideten Neugeborenen mindestens alle 12 Stunden (“cephalocaudale Progression”) erhielt eine „starke Empfehlung“. Frage nebenbei: Wer macht das in Deutschland in dieser Intensität? Aber auch das empfohlene Zufüttern mit Formula bei unzureichender Laktation, bzw. das Ausstreichen oder Abpumpen der Brust könnten Maßnahmen sein, die in Deutschland in vielen als „stillfreundlich“ zertifizierten Kliniken schwer umzusetzen sind.

Obwohl es in den USA auch durchaus berechtigte Kritik an dieser neuen Leitlinie gab, wurde sie offenbar angewendet. Als ein Ergebnis hatte bereits 2023 eine Single-Center-Studie eine Reduktion der kapillären Bilirubinkontrollen von 51 auf 26 pro 100 Patiententage nachgewiesen [1].

Die in dieser Ausgabe von Neonatologie Scan referierte Studie [4] mit Daten aus 8 Kliniken von 22 500 Neugeborenen hat jetzt diese Ergebnisse nicht nur bestätigt, sondern auch um einige „Sicherheitsaspekte“ erweitert: die Fototherapierate ging um 47% zurück, die kapillären Bilirubinkontrollen um 23%, aber wichtiger noch, die Rate an Wiederaufnahmen, insbesondere auch diejenigen zur Fototherapie, stiegen nicht an, und die primäre Krankenhausaufenthaltsdauer blieb gleich, ebenso die ambulanten Bilirubinkontrollen.

Bleibt abzuwarten, ob mittelfristig auch Daten zur Häufigkeit der dauerhaften Bilirubin-Enzephalopathie dieses Vorgehen weiter bestätigen.

Und es bleibt abzuwarten, wie diese neuen Erkenntnisse in eine neue deutsche Leitlinie einfließen werden, die zurzeit in Arbeit ist.

Erneut schließen wir ein Editorial mit dem Fazit: weniger ist manchmal mehr – oder konkret: weniger Bilirubinkontrollen führen zu mehr Entspannung bei Neonatologen, Eltern und Kind.

Ihre Herausgeber
PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät
der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg



Publication History

Article published online:
20 August 2024

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  • Literatur

  • 1 Sukkar S, Jananeh S, Harrison R. et al. Decreasing Bilirubin Serum Tests in Healthy Newborns During Birth Hospitalization. Pediatrics 2023; 151: e2022059474
  • 2 Maisels MJ, Bhutani VK, Bogen D. et al. Hyperbilirubinemia in the newborn infant > or =35 weeksʼ gestation: an update with clarification. Pediatrics 2009; 124: 1193-1198
  • 3 Kemper AR, Newman TB, Slaughter JL. et al. Clinical Practice Guideline Revision: Management of Hyperbilirubinemia in the Newborn Infant 35 or More Weeks of Gestation. Pediatrics 2022; 150: e2022058859
  • 4 Sarathy L, Chou JH, Romano-Clarke G. et al. Bilirubin Measurement and Phototherapy Use After the AAP 2022 Newborn Hyperbilirubinemia Guideline. Pediatrics 2024; 153: e2023063323