Zeitschrift für Palliativmedizin 2024; 25(02): 76
DOI: 10.1055/a-2257-7983
Forum

Kein Culture-War im Behandlungszimmer!

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Kaum ein Thema erhitzt die Gemüter mehr als die Auseinandersetzung um Genderfragen und die Rechte von ‚queeren‘ Menschen. Das Putin-Regime rechtfertigt den Krieg gegen die Ukraine als Kampf gegen das „dekadente Gayropa". In Kirchen und Politik findet ein regelrechter „culture war“ statt.

Abseits davon benötigen Menschen, die lesbisch, schwul, bi(sexuell), trans, intersexuell oder nonbinär sind (also LSBTI*), wie jede:r gesundheitliche Versorgung von der Wiege bis zur Bahre. Ärzt*innen, Pflegefachkräfte, psychosoziale und seelsorgliche Unterstützung bis hin zu therapeutischen Berufen sollten ungeachtet der Geschlechteridentität oder sexuellen Identität behandeln und betreuen. Das ist angesichts der aufgeheizten öffentlichen Debatte, alter Vorurteile und eines oft beschränkten Wissens gar nicht so einfach, zumal viele ‚queere‘ Menschen bis vor Kurzem noch pathologisiert wurden. Abhilfe leistet nun das Buch LSBTI* in Pflege und Medizin. Der Krankenpfleger Volker Wierz und der Arzt Michael Nürnberg haben bereits 2022 einen Band zu HIV-Infektion in der Pflege veröffentlicht. Für den neuen Band konnten sie Autor*innen gewinnen, die aus eigener Lebensrealität schreiben – ein begrüßenswerter Ansatz, denn allzu häufig wurde ‚über‘ LSBTI* Menschen geschrieben statt sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Es ist bewundernswert, wie sachlich, sensibel und sensibilisierend Informationen ‚from within‘ und hilfreiche Handlungsempfehlungen gegeben werden.

Der Band umfasst 13 kurze und inhaltsreiche Kapitel. Die ersten gehen auf Themen ein, die für alle Gruppen gelten: kontextuelle, rechtliche und religiöse Umstände und Konkretionen von Diskriminierung und ihre gesundheitlichen Folgen (z. B. das Phänomen ‚Minderheitenstress‘). Wierz und Nürnberg stellen in Fallvignetten die vielen Formen von Diskriminierungserfahrung dar. Sehr hilfreich ist ein Kapitel zur dynamischen Begriffsbestimmung, das manchen Journalist*innen in Feuilleton und Politik zur Lektüre zu empfehlen ist. Fluidität der Begriffe und Kritik an Kategorien sind teils psychoanalytisch, teils sozialisationstheoretisch, teils gesellschaftspolitisch begründet; ihnen kann nur durch einen subjektzentrierten Ansatz entsprochen werden. „Eine Person weiß und fühlt nur selbst, welche Geschlechtsidentität sie hat und wie sich dies körperlich und auf Verhaltensebene ausdrücken soll“. Bo Andrade Frank stellt die Geschichte der Diskriminierung dar, Wierz und Nürnberg schildern die Vielschichtigkeit von LSBTI*-Feindlichkeit, die als psychologische Pathologisierung von Homo- und Transsexualität und anhaltende negative Einschätzung von LSBTI* in der Medizin leider oft religiös begründet wurde und noch bis vor Kurzem oft zu sog. Konversionstherapie geführt hat. Ein eigenes Kapitel widmen Frank und Wierz Coming-out-Prozessen. Sie unterscheiden inneres Coming-out (Bewusstwerdung) und (häufig erzwungenes) Going-Public und verweisen auf das besonders im klinischen Kontext oder in Pflegeeinrichtungen unfreiwillige Outing durch Gesundheitspersonal.

In 5 Kapiteln werden L-S-B-T-I einzeln vorgestellt. Der fachliche Hintergrund der Verfasser*in ist dabei ebenso zu merken wie die unterschiedliche Diskriminierungssituation. Bei schwulen Männern (Wierz/Nürnberg) kann ein klarer Fokus auf gesundheitliche Aspekte wie Diagnostik und Behandlung sexuell übertragbarer Infektionen (STI) gesetzt werden, da es spätestens seit der AIDS-Krise zahlreiche Studien gibt, während lesbische Frauen (Frank), Bisexualität (Miron/Schierenberg) Intergeschlechtlichkeit (Rogenz/Däbrich) und Nonbinarität (Hahne) in der Forschung oftmals unsichtbar sind und oft gar nicht behandelt werden. Den spezifischen Bedarf, teils Fehlbehandlungen beschreiben die Autor*innen v. a. im Blick auf Transpersonen, nonbinäre und intersexuelle Menschen. „Das Gesundheitssystem ist ein Spiegel der Gesellschaft“: Der gesellschaftliche Streit ist zwar im Behandlungszimmer präsent, darf ihn aber nicht beherrschen.

Die letzten 3 Kapitel greifen Themen auf, die im Versorgungsalltag (ambulant, stationär, haus- und fachärztlich wie in Pflegeeinrichtungen) auf alle Gruppen anwendbar sind, so die Hinweise für eine strukturierte und reproduzierbare Sexualanamnese mit den „3 P’s“ – Partner*innen, Praktiken, Prävention, eine tabellarische Übersicht zu STI und das unbedingt lesenswerte Kapitel zu LSBTI* in palliativer Versorgung (Baumann/Doll). Konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis gelten der Mikroebene der Patient*innen-Beziehung, der Mesoebene der Teamkultur und der Makroebene von Leitlinien, Unternehmenskommunikation und Bildungsangeboten. Alles ist sehr strukturiert und operationalisierbar, bis hinein in konkrete Beispielformulierungen und Hinweise für Vernetzung und Zertifizierungsmöglichkeiten.

Der Band gehört in die Hände aller im Gesundheitswesen tätigen Personen, v. a. derjenigen, die nur gelegentlich Kontakt zu ‚queeren‘ Menschen haben. Weil er Informationen darbietet und zu einer diversitätssensiblen Haltung ermutigt, ist er auch für Ausbildungskontexte zu empfehlen. Die an wenigen Stellen bestehende Unterkomplexität und z. T. auch nicht ganz richtige Informationen (der erste lesbisch-schwule Protestmarsch fand 1973 im schwarzen Münster, nicht erst in Berlin statt!) fällt nicht ins Gewicht.

Traugott Roser, Münster



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Article published online:
01 March 2024

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