Zeitschrift für Phytotherapie 2024; 45(03): 110-116
DOI: 10.1055/a-2237-9095
Forschung

Fenchel in der Pädiatrie

Ein Update zur Beurteilung von Estragol
Ulrike Kastner
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Einleitung

In der pädiatrischen Praxis ist Fencheltee bislang ein bewährter phytotherapeutischer Ansatz zur Behandlung von Säuglingskoliken ab 3 Monaten [1] [2] [3] [4] [5], von Verdauungsstörungen und Atemwegserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Selbst in der Beratung von stillenden Müttern haben Fenchelfrüchte als Bestandteil von Stilltees seit jeher großen Stellenwert, aufgrund eines galaktagogen Effektes ohne Erhöhung des Prolaktinspiegels [6] [7].

Einem Bestandteil des ätherischen Fenchelöls, dem Estragol (1-Methoxy-4-allylbenzol, 1-Methoxy-4-(2-propenyl)-benzol) ([Abb. 1]) wird wegen der strukturellen Zugehörigkeit zur Gruppe der Allylbenzole bereits seit 2005 innerhalb des HMPC (Committee on Herbal Medicinal Products) der EMA (European Medicines Agency) Beachtung geschenkt [8], da man Verbindungen dieser Substanzgruppe aufgrund der reaktiven Seitenkette toxisches Potenzial zuschreibt.

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Abb. 1 a Estragol und b trans-Anethol: Der relevante Unterschied liegt in der Allyl-Gruppe des Estragols.

Die nun nach knapp 20 Jahren aktuelle 1. Revision des HMPC-Dokuments „Public Statement on the use of herbal medicinal products containing estragole“ (EMA/HMPC/137212/2005 Rev 1, 03/2022) [9] hat die Diskussion um die Sicherheit von Fencheltee in den Fachgremien und in der Öffentlichkeit europaweit wieder angeheizt, insbesondere was die Anwendung bei Kindern unter 12 Jahren und bei Säuglingen sowie bei Schwangeren und Stillenden betrifft. Da es sich bei Public Statements, Assessment Reports und Monografien der HMPC stets um Empfehlungen handelt, die aber für Firmen/Apotheken im Rahmen von Einreichungen eines Zulassungsdossiers bzw. bei Vertrieb von Produkten mit arzneilichem Anspruch richtungsweisend sind, haben diese Dokumente zum einen zur Reaktion von Seiten der Österreichischen Apothekerkammer, der Task-Force der Arzneibuchkommission, der AGES (Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) sowie auch einzelner Firmen und Apotheken mit Schwerpunkt Phytotherapeutika geführt. Auch in der Schweiz gab es am 06.03.2024 eine Empfehlung der Swissmedic, Fenchelprodukte während einer Schwangerschaft und in der Stillzeit nicht anzuwenden und die Abgabe an Kinder unter 4 Jahren nur in Rücksprache mit einer Medizinalperson zu praktizieren.

Abgesehen davon bleibt europaweit für viele Anwender die Frage offen, wie nun mit diesen bei weitem nicht neuen, aber dennoch aktuellen Empfehlungen umzugehen ist, zumal die Anwendung von Produkten aus Fenchelfrüchten nicht nur auf den Arzneimittelsektor beschränkt ist, sondern sich Fenchelfrüchte und ätherisches Fenchelöl auch häufig in Nahrungsergänzungsmitteln, Kosmetika und Medizinprodukten finden und somit für den Anwender frei zugängig sind, ohne jegliche medizinische oder pharmazeutische Beratung. Hinzu kommt die leider häufig unreflektierte Informationsquelle über digitale Medien und Laienpresse, die zu zusätzlicher Verunsicherung führt und der man mit den derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Daten entgegentreten sollte.

Bestimmungszweck beachten

Produkte aus Fenchelfrüchten mit therapeutischem Ansatz sind sowohl im Bereich der Arzneimittel (Arzneitees, Teegemische, apothekeneigene Spezialitäten, wenige zugelassene Arzneispezialitäten) als auch auf der Ebene der Nahrungsergänzungsmittel in Gebrauch. Somit muss in der Beurteilung von Fenchel in der Pädiatrie klar unterschieden werden zwischen Empfehlung eines Fencheltees mit therapeutischer Indikation und ebensolchem Anspruch und der sehr verbreiteten Verwendung von Tees, Teegemischen oder Instanttees im Rahmen der Selbstmedikation.

Ganz abgesehen davon ist Fenchel auch als Nahrungs- und Genussmittel beliebt, hier meist als Knolle des „Gemüsefenchels“, wobei diese Pflanzenteile keine relevanten Mengen an Estragol enthalten und somit außerhalb der Diskussion stehen.

Hingegen sollten Gewürzzusätze und Geschmacksverstärker von ätherischen Öldrogen mit Estragolgehalt (wie eben Fenchel, aber auch z. B. Anis, Estragon, Basilikum, Piment, Sternanis, …) zu Pestos, Getreideprodukten, Digestiva und zu Kosmetika (Mundwässern, Zahnpasten etc.) auch in die Beurteilung der sogenannten Grundbelastung mitaufgenommen werden, wobei in der Lebensmittel-, Kosmetik- und Medizinproduktebranche bislang keine Estragolangaben erforderlich sind. Auf Drängen u. a. des deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) [10] wird Estragol aktuell als kritische Substanz bei Lebens- und Genussmitteln erkannt und innerhalb der EFSA (European Food Safety Agency) diskutiert [11] [12].

Somit sind die Empfehlungen und Diskussionen innerhalb der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) und der europäischen Lebensmittelbehörde (EFSA) getrennt zu betrachten, obgleich beide Institutionen auf die gleiche Datenlage zurückgreifen, diese allerdings in unterschiedlicher Weise zur Beurteilung des Risikos heranziehen.




Publication History

Article published online:
10 June 2024

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