PiD - Psychotherapie im Dialog 2024; 25(02): 14-15
DOI: 10.1055/a-2123-9987
Editorial

Persönlichkeitsstörungen

Silke Wiegand-Grefe
,
Christoph Flückiger

Das Leiden der Anderen und der Betroffenen

Im Studium vor über 30 Jahren habe ich von anerkannten Lehrer*innen und Dozent*innen gelernt: Bei einer früher als sog. neurotische Erkrankung bezeichneten Störung, z. B. einer Depression, einer Angst- oder Zwangserkrankung leiden die Betroffenen – bei einer Persönlichkeitsstörung leidet die Umgebung.

Dieser Satz wird der Komplexität der Diagnostik psychischer Erkrankungen und schon gar einer Persönlichkeitsstörung natürlich nicht gerecht und ist so nicht haltbar. Trotzdem verweist er auf die zentrale Beziehungsstörung im Kern einer Persönlichkeitsstörung, die diese Erkrankungen auch für die Angehörigen von betroffenen Menschen mit Persönlichkeitsstörungen (und die Behandler*innen) so herausfordernd macht. Aktuellen Forschungen zufolge sind beispielsweise die Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen im Vergleich zu Kindern von Eltern mit anderen Erkrankungen am stärksten von eigenen psychischen Störungen betroffen [1].

Aber es klingt auch eine Stigmatisierung in diesem eingangs zitierten Satz durch. Und genau die sollte mit der Einführung der ICD-11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Auflage) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die am 01.01.2022 in Kraft getreten ist, vermieden werden: Mit der Einführung der ICD-11 wurde die Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen grundlegend verändert, weil das kategoriale Konzept einer Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 die Stigmatisierung Betroffener begünstige, was dazu beitrage, dass die Diagnose in der klinischen Praxis zu selten vergeben werde. Außerdem sei das in der ICD-10 geforderte Kriterium der Zeitstabilität nicht mehr sinnvoll anwendbar. Diese Überarbeitung des Konzepts der Persönlichkeitsstörungen fußt auf einer fachlichen Diskussion, nach der auffällige Persönlichkeitsmerkmale und resultierende psychosoziale Beeinträchtigungen möglichst wertfrei zu betrachten sind. Nicole C. Hauser, Sabine C. Herpertz und Elmar Habermeyer fassen diese Debatte hervorragend zusammen [2].

ICD-11 vs. ICD-10

Trotzdem sind kulturell erwartbare und akzeptierte Vorgaben und auch gesellschaftliche Normen natürlich in der Diagnostik jeder Störung bedeutsam, auch in der von Persönlichkeitsstörungen. Entsprechend wurden in der ICD-10 (WHO 2004) deutlich von den Normen abweichende Verhaltensmuster und Erfahrungen Betroffener mit erheblichen negativen Konsequenzen für sie selbst, ihre soziale Umwelt oder für beide Bereiche als ausschlaggebend für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung definiert. Dagegen legt die ICD-11 nun eine dimensionale Einteilung vor: Zunächst werden Funktionsbeeinträchtigungen geprüft, die dann anhand von 3 Schweregraden eingeschätzt werden. Abschließend besteht die Möglichkeit, 5 Persönlichkeitsmerkmale (negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung, Zwanghaftigkeit) und optional das Vorliegen einer Borderline-Persönlichkeit zu erfassen. Die ICD-11 erlaubt also auch die Erstellung eines Profils von zeitstabileren Persönlichkeitsmerkmalen, die jedoch im Vergleich zu den in den ersten beiden Schritten adressierten Funktionseinbußen lediglich hinsichtlich ihres Vorhandenseins erfasst und nicht anhand ihres Schweregrades charakterisiert werden. Zur Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung werden in der ICD-11 also erstens diagnostisch relevante Funktionsbeeinträchtigungen geprüft, zweitens das Ausmaß dieser Beeinträchtigungen bestimmt und danach werden diese drittens Persönlichkeitsmerkmalen zugeordnet. Während in der ICD-10 zwischen 8 verschiedenen auch kombinierbaren Persönlichkeitsstörungen differenziert wurde, sieht die ICD-11 lediglich den übergeordneten Begriff „Persönlichkeitsstörung“ vor, der anhand bestimmter Leistungseinbußen, deren Schweregrad und 5 Persönlichkeitsmerkmalen charakterisiert werden kann.


#

Konsequenzen für die Therapie

Dies ist die aktuell geltende diagnostische Grundlage für die Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen. Aber was heißt das nun für die Behandlung?

Um dem nachzugehen, haben wir die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Persönlichkeitsstörungen in einigen diagnostischen Aspekten, v. a. aber in verschiedenen Aspekten der Behandlung zusammengestellt. In unserem Heft geht in jeweils einem State-of-the-Art Beitrag Ueli Kramer einer wirkfaktorenbasierten Perspektive bei der Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen nach, Anna Babl beschäftigt sich mit den Schematheorien als Grundlage von Psychotherapie und Kirsten von Sydow überblickt den Stand der systemischen Therapie bei Persönlichkeitsstörungen.

Mit dem wichtigen Themenfeld der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen beschäftigt sich Christopher J. Hopwood bezüglich der Hierarchischen Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP), Catharina Trinkler greift wesentliche Aspekte der Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen auf und Sibille Steiner, Michael Kaess und Marialuisa Cavelti stellen den aktuellen Stand zur Diagnostik und Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Jugendalter vor. Mathias Allemand und Mirjam Stieger liefern empirische Einsichten aus der Persönlichkeitsforschung für die Psychotherapiepraxis und Johannes Ehrenthal überblickt die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD-3) bei Persönlichkeitsstörungen.

Einige Beiträge beschäftigen sich mit der Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen. Den aktuellen Stand der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen berichten Leonie Strunk und Christoph Kröger. Die aktuellen Impulse aus der MBT (Mentalisierungsbasierte Therapie) nehmen Thorsten Vidalón Blachowiak, Anna Berning, Sophie Hauschild und Svenja Taubner in den Blick. Die aktuellen Entwicklungen aus der übertragungsfokussierten Psychotherapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen stellen Peter Buchheim und Anna Buchheim vor. Den Herausforderungen der stationären Therapie von Menschen mit Persönlichkeitsstörung widmet sich der Beitrag von Eva Müller. Gitta Jacob, Eva Faßbinder und Philipp Klein stellen digitale Methoden bei der Behandlung der Boderline-Persönlichkeitsstörung vor.

Corina Aguilar-Raab und Matthias Ochs greifen in ihrem Beitrag „Love me tender, love me sweet, but don’t touch me too deep…” die Perspektive der Angehörigen von Borderline Erkrankten auf. Mit der schwierigen Situation der eingangs schon erwähnten Kinder von Eltern mit Persönlichkeitsstörungen und mit den wichtigen Aspekten von Elternschaft und Persönlichkeitsstörungen beschäftigen sich Jana Zitzmann, Babette Renneberg und Charlotte Rosenbach.

So haben wir den aktuellen Stand der Entwicklungen aufbereitet, erfahrene Autor*innen gewonnen und mit Freude dieses Heft zusammengestellt.

Hoffentlich haben Sie ebenso viel Vergnügen bei der Lektüre der Beiträge wie wir!

Silke Wiegand-Grefe

Christoph Flückiger


#

Publication History

Article published online:
27 May 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Zitzmann J, Rosenbach C, Renneberg R. „Ich möchte es anders machen!“ – Persönlichkeitsstörungen und Elternschaft. PiD – Psychotherapie im Dialog 2024; 25 (2) 77-81
  • 2 Hauser NC, Herpertz SC, Habermeyer E. Das überarbeitete Konzept der Persönlichkeitsstörungen nach ICD-11: Neuerungen und mögliche Konsequenzen für die forensisch-psychiatrische Tätigkeit. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2021; 15: 30-38