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DOI: 10.1055/a-1999-9187
Porno, Sex und Männlichkeit. Wie junge Männer ihre Sexualität schaffen
Zur männlichen Selbstbefriedigung gehört heute ab dem Pubertätsalter die Video-Pornografie ganz selbstverständlich dazu. Das Thema Pornografie ist daher in der Sexual- und Medienpädagogik sowie in der Jungenarbeit ein Dauerbrenner-Thema. Es ist klar, dass man im Digitalzeitalter weder mit technischer noch mit rechtlicher Regulierung den allgegenwärtigen Zugang zu Pornografie effektiv verhindern kann. Daher bleibt nur der steinige Weg der kritischen Auseinandersetzung und Kompetenzentwicklung. Hier herrscht jedoch anhaltend große Verunsicherung, wie und mit welchem pädagogischen Auftrag Eltern und Fachkräfte altersgerecht mit Jugendlichen über Pornografie sprechen sollen. Denn mit dem Thema Pornografie sind immer auch so schambehaftete und private Themen angesprochen wie die individuellen Masturbationsgewohnheiten und die persönlich favorisierten erotischen Fantasien.
Vor diesem Hintergrund ist die von Reinhard Winter vorgelegte Monografie zur Bedeutung von Pornografie für junge Männer ein gleichermaßen relevanter wie aktueller Debattenbeitrag. Winter stellt sich im Buch vor als „der profilierteste Jungenexperte im deutschsprachigen Raum“. Er ist Diplom-Pädagoge, leitet das Sozialwissenschaftliche Institut Tübingen (SOWIT), arbeitet in der Forschung, Fortbildung und Beratung. Sein Ansatz lässt sich als parteiliche Jungenforschung kennzeichnen. Denn es ist ihm ein wichtiges Anliegen, das seiner Auffassung übermäßig negative Image der Jungen und jungen Männer in der Öffentlichkeit zu korrigieren und für ihre legitimen Interessen einzutreten. Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Männlichkeitsbildern. Die als Mitwirkende auf dem Buchcover genannten sechs Projektmitarbeiter*innen, die einzelne Exkursboxen beigesteuert haben, werden im Buch mit ihrem fachlichen Hintergrund nicht näher vorgestellt.
Reinhard Winters Analyse basiert auf Leitfaden-Interviews mit 32 Männern und 17 Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die vollständig oder teilweise transkribiert wurden (S. 14 ff.). Über den Interviewleitfaden, die Interviewdurchführung und die Auswertungsmethode wird nichts verraten, es findet sich auch keine einzige Methodenquelle im Literaturverzeichnis. Ergänzt werden die qualitativen Interviews um die Online-Befragung einer Gelegenheitsstichprobe von 175 jungen Männern, überwiegend Studenten (S. 16 ff.). Der Fragebogen scheint nicht auf etablierten Instrumenten zu basieren und rein selbst konstruiert zu sein, auch er wird leider nicht mitgeliefert. Die Auswertung der Fragebogenerhebung erfolgte allein mittels deskriptiver Statistik.
Winters Analyse liefert im Kern zwei Hauptbefunde – einen zu heterosexuellem Paarsex und einen zu pornografiebegleitetem Solosex – und mündet abschließend in eine sexualpädagogische Empfehlung.
Befund zum Heterosex: Die Einstellungen und Verhaltensweisen bezüglich „Partnersex“ seien bei den meisten heterosexuellen „Jungs“ heutzutage unproblematisch, da auf Konsens und gemeinsamen bzw. wechselseitigen Spaß mit der Frau ausgerichtet. Was die Frau wolle, sei immer oberstes Gebot und „sakrosankt“, kein einziges Indiz für eine Kritik an sexuellen Haltungen oder Verhaltensweisen von Frauen sei in den Daten zu finden gewesen (S. 258). Und die alte „Dominanz-Männlichkeit“ sei ohnehin obsolet. Typischerweise kämpften „Jungs“ in ihrem legitimen Streben nach gemeinsamem „Sexspaß“ mit der Frau leider oft mit dem „Sexstress“, der Frau nicht zu genügen, nicht lange genug durchzuhalten oder sie nicht zum Höhepunkt zu bringen, denn schließlich müssten Jungs ja stets „Orgasmusservice“ für die Frau leisten. Dementsprechend moniert Winter eine allgegenwärtige und ungerechtfertigte Negativdarstellung männlicher Sexualität in der Öffentlichkeit, die eben auch in alarmistischen Anti-Porno-Diskursen zur vermeintlichen Verrohung zum Ausdruck komme.
Befund zum pornografiebegleiteten Solosex: Der in Winters Darstellung primär von den Interessen der Frauen und von romantischen Liebesidealen geprägte Heterosex führe dazu, dass die „Jungs“ mit ihren ureigensten sexuellen Interessen real nur sehr eingeschränkt zum Zuge kämen. Beim solosexuellen Pornografiegebrauch dagegen könnten ihre männlichen Sexualwünsche ungehindert lustvoll ausgelebt werden. Für „Jungs“ erfülle der Porno somit wichtige Funktionen für ihre Sexualität und ihr Männlichkeitserleben. Sie biete „Entspannung“ (Ablenkung und Stimmungsaufhellung im Alltag), „Entlastung“ (Sex ohne Leistungsanforderungen und Stress) und „Entgrenzung“ (Sex ohne Grenzen der Selbstkontrolle, des Anstandes, der Moral und der Rationalität; S. 131). Dank dieser wichtigen Funktionen sei Pornografie im Kern nicht nur nicht schädlich, sondern ausdrücklich nützlich. Die Gefahr, dass männerzentrierte Porno-Skripte unkritisch in den Sex mit Frauen übertragen werden, sieht Winter nicht. Denn die „Jungs“ würden ganz stark trennen zwischen der Sphäre des „Pornoversums“ einerseits und der Sphäre des „idealisierten, edlen Partnersex“ andererseits (S. 237).
Sexualpädagogische Empfehlung: Winter schwebt als Zukunftsvision ein „elaborierter, postpornografischer Sex“ (S. 258) vor, den er auch mit einem positiven Konzept von „Ficken“ als „authentischem“, „energetischem“ Ausdruck von Sexualität belegt (S. 259). Der bisherige Sex der „Jungs“ sei „romantisch überladen und gleichermaßen sexuell entschärft“ (S. 259), daher sollte die Sphäre des „Partnersex“ stärker mit der Sphäre des „Pornosex“ zusammengebracht werden, das würde „Jungs“ vom Sexstress entlasten und ihre männlichen Sexualwünsche stärker integrieren. Als Weg dahin werden zum einen Selbsterkenntnis („Jungs“ sollen besser verstehen, was ihnen am Porno so sehr gefällt) und zum anderen Kommunikation (sie sollen lernen, ihre im „Pornoversum“ virtuell erkundeten Wünsche stärker in den Paarsex zu integrieren) genannt. In der Sexualpädagogik solle dementsprechend beides gefördert werden. Dabei solle dann aber kein „egozentrischer Sex“ herauskommen, sondern ein Sex nach der Formel „ganz bei dir und ganz bei mir“ (S. 258). Das Problem beim bisherigen Heterosex sei tendenziell, dass „Jungs“ durch Leistungsdruck, die ständige Orientierung an der Frau und moralische Kontrollansprüche zu wenig bei sich sein können. Generell kritisiert Winter, dass heute eine „woke Kontroll-Männlichkeit“ (S. 62) die alte „Dominanz-Männlichkeit“ ersetzt habe, was Männer dazu bringe, sich ständig politisch korrekt übermäßig selbst zu kontrollieren, auch beim Sex.
Mit seiner ausdrücklichen Pro-Porno-Haltung und seiner Parteinahme für das sexuelle Vergnügen der „Jungs“ positioniert sich Winter gegen einen gesellschaftlichen und pädagogischen Mainstream, der Pornos allzu oft per se als ernste Gefahr betrachtet und männliche Sexualität als etwas Gefährliches und notorisch zu Kontrollierendes konstruiert. Dem Autor ist durchaus zuzustimmen in seiner Kritik an allzu dramatisierten Anti-Porno-Diskursen. Erfreulich ist auch, dass Winter die Pornografie als fiktionale Mediengattung versteht, Bezüge zur Psychodynamik sexueller Fantasien herstellt und anerkennt, dass der mangelnde Realitätsbezug des Pornos eben kein Fehler, sondern gerade das zentrale Funktionsmerkmal des Genres ist. Spannend ist das Buch bei den Fallbeschreibungen, die anreißen, wie einzelne junge Männer über Pornos denken, wie sie ihren Sex im Interview darstellen und was sie jüngeren Jugendlichen in puncto Pornografienutzung empfehlen würden.
Doch in seiner engagierten und ehrenwerten Parteinahme für die „Jungs“, ihre Sexualität, ihre Männlichkeit und ihre Pornos schüttet der Autor letztlich leider das Kind mit dem Bade aus. Winter bezeichnet 18- bis 25-jährige Männer bewusst immer als „Jungs“ (S. 11), ihre statistisch meist jüngeren Sexualpartnerinnen dagegen durchgängig als „Frauen“ (nie als „Mädels“). Die internationale Fachliteratur spricht bei dieser Altersgruppe stattdessen von emerging adults. Doch Winter konstruiert sprachlich beharrlich sein etwas unterkomplexes Bild vom Heterosex, bei dem die braven „Jungs“ es doch immer nur den übermächtigen „Frauen“ recht machen wollen und beständig „Orgasmusservice“ leisten. Erklärungsbedürftig wäre dann aber, warum Frauen gemäß allen vorliegenden Studien beim Sex mit Männern sehr viel seltener einen Orgasmus erleben als beim Solosex oder beim Sex mit Frauen – und auch sehr viel seltener als Männer, für die der eigene Orgasmus beim Heterosex nahezu immer dazugehört (Döring N, Mohseni MR. Der Gender Orgasm Gap. Ein kritischer Forschungsüberblick zu Geschlechterdifferenzen in der Orgasmus-Häufigkeit beim Heterosex. Z Sexualforsch 2022; 35: 73–87). Erklärungsbedürftig wäre auch, wie das Bild der sexuell stets dienenden „Jungs“ dazu passt, dass empirisch belegt die Mehrzahl heterosexueller Interaktionen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen Oralsex allein nur für den Mann, nicht aber für die Frau beinhaltet (z. B. Vannier SA, O’Sullivan LF. Who Gives and Who Gets: Why, When, and with Whom Young People Engage in Oral Sex. J Youth Adolesc 2012;41: 572–582). Erklärungsbedürftig wäre zudem, warum Winter den Heterosex junger Erwachsener immer nur als „romantisiert“ und völlig different vom „Pornosex“ beschreibt, wo doch empirisch belegt ist, dass junge Erwachsene sogenannte Rough-Sex-Praktiken (Haareziehen, harte Stöße, Schläge, Würgegriffe usw.), die der Porno zeigt, relativ häufig in den Heterosex integrieren (z. B. Herbenick D et al. What Is Rough Sex, Who Does It, and Who Likes It? Findings from a Probability Sample of U. S. Undergraduate Students. Arch Sex Behav 2021; 50: 1183–1195).
Derartige empirische Fakten in die Darstellung einzubeziehen, hätte die Überzeugungskraft der Arbeit erhöht. Doch der umfassende internationale Forschungsstand wird weitgehend ignoriert, stattdessen wird fälschlich behauptet, es gebe kaum Studien zum Thema. Auch behauptet Winter, es gebe in der Öffentlichkeit ausschließlich negative Bilder männlicher Sexualität: „Wann haben Sie zuletzt etwas Positives über die männliche Sexualität gehört oder gelesen? Vielleicht noch nie? Das wäre wenig überraschend“ (S. 20). Empirische Daten oder Belege zu Inhalten der Medienlandschaft liefert Winter nicht. Die würden wohl auch eher zeigen, dass die Medienwelt voll ist von Bildern sexuell aktiver Männer, die weithin als bewunderns- und begehrenswert gelten und große weibliche wie männliche Fangemeinden haben.
Bedauerlich ist die relativ große Gegenstandsferne des Buches. So wird der gleichberechtigte „Sexspaß“, den die „Jungs“ laut eigenen Angaben vermeintlich immer anstreben, zwar beschworen, aber nie wirklich beschrieben. Bezeichnenderweise kommen Begriffe wie „Klitoris“ oder „Vulva“ im Buch kein einziges Mal vor. Andererseits wird beispielsweise der 22-jährige Max zitiert mit: „Es ist auch bestimmt jedem Typen mindestens einmal passiert, dass man halt so gesehen – ähm – aus Versehen die Frau anal penetriert“ (S. 33). Das Konzept der „versehentlichen analen Penetration“ der Frau, die nach Aussage des Interviewpartners „jedem“ Mann unterläuft, hätte eine genauere Interpretation mit Blick auf Grenzverletzungen und deren Verschleierung verdient.
Winters apodiktische Behauptungen, die „Jungs“ seien doch immer auf wechselseitigen „Sexspaß“ aus und würden es jederzeit nur der Frau recht machen – sogar auf Kosten des eigenen Vergnügens –, lassen sich anhand seiner kleinen, selektiven Stichproben und seiner unbekannten qualitativen Auswertungsmethode in dieser Allgemeinheit nicht stützen. Und sie passen auch nicht zu den vielfältigen belastbaren Daten zur heterosexuellen Praxis und zur großen Verbreitung sexueller Konsensprobleme und Grenzverletzungen, die kausal vermutlich weniger dem Porno als den asymmetrischen Geschlechterverhältnissen anzulasten sind, aber eben leider existieren. Dem Autor sind kritische Rückmeldungen zu seiner schönfärberisch anmutenden Darstellung von „Jungmännersex“ durchaus bekannt (S. 224 f.). Doch er beharrt auf der Generalisierbarkeit seiner Daten und Interpretationen, anstatt stärker zu kontextualisieren, etwa in welchen gesellschaftlichen Gruppen wohl die von ihm selbst postulierte neue „woke Kontroll-Männlichkeit“ greift und in welchen gesellschaftlichen Gruppen ganz andere Männlichkeitsbilder leitend sind (z. B. eine hyperdominante Alpha-Male-Mentalität, die aktuell in Sozialen Medien und im Reality TV sehr sichtbar ist).
Insgesamt ist dem Buch zugutezuhalten, dass es einer der wenigen Debattenbeiträge im deutschsprachigen Raum ist, die aus erklärtermaßen männlicher Perspektive klar eine Pro-Porno-Position einnehmen, positive Funktionen der Pornografie erkunden und die sich auch an einer Positivvision des Heterosex versuchen. Mehr Kontextualisierungen, Nuancierungen und Ambiguitätstoleranz sowie größere Nähe zum internationalen Forschungsstand und zur heterosexuellen Praxis hätten der Darstellung gutgetan. Interessant wäre auch die Überlegung gewesen, was genau an den beschriebenen Dilemmata rund um grenzenlose sexuelle Fantasien und Wünsche, sexuell explizite Medieninhalte und naturgemäß begrenzte Paarsexualität nun „männlich“ und was einfach nur menschlich ist.
Nicola Döring (Ilmenau)
Dieser Artikel wurde gemäß dem Erratum vom 8.8.2024 geändert.
In diesem Beitrag waren die Überschrift des Beitrags und die Legende des Buchcovers nicht korrekt, dies wurde berichtigt. Korrekt ist: Porno, Sex und Männlichkeit. Wie junge Männer ihre Sexualität schaffen
Publication History
Article published online:
14 March 2023
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany