Geburtshilfe Frauenheilkd 2022; 82(09): 898-900
DOI: 10.1055/a-1902-8133
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie

„Frauenmilch ist kostbar“ – zur Geschichte der Frauenmilchsammelstellen in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR

Nina Hannemann
,
Andreas D. Ebert
,
Matthias David
1   Klinik für Gynäkologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Deutschland
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Unter einer Frauenmilchsammelstelle ist jede Einrichtung zu verstehen, die der Verwirklichung des Zweckes dient, die ungenutzt überschüssige vorhandene Milch stillender Mütter einzusammeln und den Kindern zuzuführen, die aus irgendeinem Grunde von ihren eigenen Müttern an der Brust nicht genährt werden können…“ [1].

Frauenmilchsammelstellen (FMS) dienten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Sammlung und Weitergabe von Muttermilch. In ihnen wurden die Muttermilchspende selbst und deren Weitergabe überwacht und koordiniert [2]. Mit der zunehmenden Industrialisierung und den damit verbundenen veränderten Lebensbedingungen Ende des 19. Jahrhunderts setzte auch ein „Rückgang des Ammenberufes“ ein [2]. Ärzte beschäftigten sich zu dieser Zeit vor allem deswegen mit Ernährungsfragen, um damit der hohen Säuglingssterblichkeit in Deutschland entgegenzuwirken. „Sie propagierten das Stillen und arbeiteten an Alternativen für die Neugeborenen, deren Mütter nicht stillten…“ [3].

Mit dieser Intention richteten der Kinderarzt Ernst Mayerhofer (1877–1957) und der Biochemiker Ernst August Pribram (1879–1940) 1909 an der Säuglingsabteilung des Franz-Joseph-Spitals in Wien eine „Zentrale für Frauenmilchversorgung“ ein [2] [4] . In den Folgejahren griffen Kinderärzte in Europa und den USA dieses Konzept auf [2]. Die Kinderärztin Marie Elise Kayser (1885–1950) gilt allgemein als Begründerin der FMS in Deutschland. Ihr kam die Idee dafür, als sie beim Stillen ihres Kindes den eigenen erheblichen Milchüberschuss bemerkte. 1919 eröffnete sie ihre erste FMS am Krankenhaus Altstadt in Magdeburg. Später siedelte sie mit ihrer Familie nach Erfurt über, wo ihr Mann zum Leiter der Landesfrauenklinik ernannt worden war und wo sie ihre in Magdeburg begonnene Arbeit fortsetzen konnte [5]. Wie sich die FMS finanzierte, wird in einem Artikel Kaysers von 1929 deutlich: „Nach unseren bisherigen Erfahrungen sowohl in Magdeburg aus den Jahren 1919/22 als auch in Erfurt kann sich die Einrichtung gut aus sich selbst erhalten, wenn man sie einer Anstalt angliedert, die die Arbeitskräfte zum großen Teil stellt“ [5]. Ergänzend dazu Schmidt (1983): „…infolge der Bezahlung der Milch durch die Konsumenten konnte sich die FMS Magdeburg in den Jahren von 1919 bis 1922 selbst erhalten, und sie erzielte in diesem Zeitraum einen Umsatz von 1973 Litern Frauenmilch“ [4]. 1930 kostete der Liter gespendeter Frauenmilch ebenso viel wie der Liter Ammenmilch, nämlich 5,50 bis 6 Mark [5]. Um den Bedarf an Frauenmilch decken zu können und möglichst viele potenzielle Spenderinnen zu erreichen, wurden Werbeplakate benötigt. Kayser schrieb deswegen an Käthe Kollwitz (1867–1945), die ihr 1921 antwortete: „Ich finde die Idee [der FMS, d. Verf.] glänzend. Sicher ist das ein Weg, die Säuglingssterblichkeit herabzudrücken. Ein Plakat, das für diese Idee wirbt, denke ich mir so, daß eine junge fröhliche Frau mit voller Brust, an der sich ihr eigenes Kind bereits satt getrunken hat, das sie aber noch im Arm hat, ein fremdes schwächliches Kind in den anderen Arm nimmt und anlegt…“ [6]. 1926 liefert Kollwitz schließlich das Plakat für die FMS Erfurt mit dem Titel „Mütter gebt von eurem Überfluß!“ ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Plakat „Mütter gebt von eurem Überfluß!“ von Käthe Kollwitz.

1939 veröffentlichte Kayser einen Leitfaden für die Einrichtung und den Betrieb von FMS, an dem sich später auch die FMS in der DDR bis 1989 orientierten [4] [7]. Das „Wesen der F.M.S.“ fasst Kayser in diesem Leitfaden so zusammen: „1. Die FMS wendet sich an die Frauen aller Stände (Im Gegensatz zu dem Ammensystem) und gibt die Milch. 2. Den Kindern aller Stände (Kassenbewilligung). 3. Die Milch muss, da vorwiegend verheiratete Frauen Spenderinnen sind, in den Haushaltungen ohne Aufsicht abgespritzt und täglich abgeholt werden. 4. Die Schaffung genauer Kontrollmöglichkeiten (diese bestanden früher nicht) der Milch auf Reinheit und Unverfälschtheit und ihre regelmäßige Anwendung. 5. Die Haltbarmachung der Milch, um Vorrat und Versand zu ermöglichen…“ [7]. Im nationalsozialistischen Deutschland hatte die „Reicharbeitsgemeinschaft für Mutter und Kind“ die Errichtung von FMS in deutschen Großstädten empfohlen und Richtlinien dafür festgelegt [1]. Frauenmilch wurde „gezielt zur Stärkung der ‚erbgesunden‘ Teile der ‚deutschen Volksgemeinschaft‘ eingesetzt…“ [8] ([Abb. 3]).

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Abb. 2 Ausriss aus der „Berliner Zeitung“ vom 26.10.1950.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die oberste Besatzungsbehörde mit Regierungsfunktion auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in Mitteldeutschland [9]. Die SMAD erließ u. a. auch zahlreiche gesundheitspolitische Befehle. Die FMS wurden in der SBZ verwaltungstechnisch an die kommunalen Polikliniken und Ambulatorien angebunden. In den ersten Nachkriegsjahren stellte (gespendete) Frauenmilch die einzige adäquate Ernährung für Säuglinge dar, deren Mütter aus den verschiedensten Gründen nicht stillen konnten. Andere „Muttermilchersatzprodukte“ standen praktisch nicht zur Verfügung. Zur Muttermilchspende wurden die stillenden Frauen durch Geld (bis zu 11 DM pro Liter [10]) und zusätzliche Lebensmittelmarken motiviert: Frauen, die monatlich mehr als 9 Liter spendeten, erhielten jeweils ein Drittel mehr Lebensmittelrationen. Die Frauenmilch wurde bei den Spenderinnen zu Hause abgeholt [10]. Hierbei wurden auch die sozialen und hygienischen Verhältnisse in den Haushalten vor Ort überprüft [11].

Die Frauenmilch wurde mithilfe eines Antitiermilchserums immunologisch auf eine eventuelle Streckung mit Kuh- oder Ziegenmilch untersucht [4] [12]. In der FMS durchlief die Frauenmilch eine Überprüfung auf Verunreinigungen und wurde anschließend in Glasflaschen sterilisiert. Die Lagerung erfolgte meist nach Gewinnungstag und Säuregrad sortiert in einem Kühlraum [7]. Es gab verschiedene Versuche, die Milch zu konservieren. Unter anderem wurde die Milch zu Trockenmilchpulver verarbeitet. Keine der Methoden konnte sich jedoch durchsetzen.

Im Juni 1951 wurde in der DDR eine „Anordnung über Frauenmilchsammelstellen“ veröffentlicht, die nun „Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens“ waren. Somit legten die jeweiligen Landesministerien für Gesundheit fest, ob und wo eine FMS eingerichtet wurde [10]. Die Kosten für die FMS wurden durch die Länder oder Kommunen getragen [4] ([Abb. 2]).

Im Vergleich zu den beiden Jahrzehnten zuvor wurden in der DDR in den 1970er- und 1980er-Jahren die niedrigsten Geburten- und Stillraten verzeichnet. Parallel dazu ging auch das Milchspendeaufkommen zurück [10]. Gründe könnten in der trotz aller sozialpolitischen Unterstützungsmaßnahmen schwierigen Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit sowie dem Aufkommen von Muttermilchersatzprodukten auch in der DDR sein. Die angespannte personelle Lage in den Kliniken insbesondere in den letzten Jahren der DDR wirkte sich insofern negativ auf die Stillfähigkeit und -motivation der jungen Mütter aus, als dass die Schwestern und Hebammen nicht mehr genügend Zeit hatten, um die Wöchnerinnen zum Stillen anzuleiten.

In der DDR hielt man lange an den FMS fest, während in der BRD die meisten bereits in den 1970er-Jahren geschlossen wurden. Sunder-Plaßmann merkte 2016 dazu an, dass die Geschichte der FMS nicht nur durch wissenschaftliche Erkenntnisse beeinflusst wurde, sondern auch durch kulturelle, (gesundheits-)politische und ökonomische Faktoren. So habe die massive Werbung der Babynahrungsindustrie in der BRD und die „öffentlichen Debatten über Umweltgifte und HIV/AIDS (…) Zweifel an den Vorteilen der natürlichen Ernährung“ des Neugeborenen verstärkt, während im Ostteil Deutschlands „die Planwirtschaft, das staatlich gelenkte Gesundheitssystem und die zensierten Medien“ maßgeblich dazu beitrugen, dass das FMS-Konzept beibehalten wurde [8].

Bis zum „Wendejahr“ 1989 existierten 60 FMS in der DDR [6]. Nach 1989 wurden viele FMS in den sog. neuen Bundesländern geschlossen. 2001 gab es insgesamt noch 16 FMS in Deutschland, 2015 waren es 13 [10] [13]. Von diesen befanden sich 12 in den sog. neuen und 1 in den Altbundesländern [13].

Aktuell wird eine neue Leitlinie „Einsatz und Behandlung von eigener und gespendeter Muttermilch in der Neonatologie“ der AWMF erarbeitet [14]. Zur Zielorientierung der Leitlinie heißt es: „Ist keine Muttermilch vorhanden, soll gespendete Frauenmilch aus Frauenmilchbanken zum Einsatz kommen. Die Leitlinie soll Perinatalzentren bei der Einrichtung von Frauenmilchbanken zur Behandlung und Aufbewahrung von Muttermilch und gespendeter Frauenmilch unterstützen, indem notwendige Schritte und Qualitätsanforderungen aus der Literatur als Empfehlung zur Verfügung gestellt werden…“ [14]. Ob damit eine bundesweite Renaissance der FMS angestoßen werden wird, wird die Zukunft zeigen.

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Abb. 3 Ausschnitt aus „Für unsere Mütter“, vermutl. 1940er-Jahre. Quelle: Vasenol-Werke Leipzig, Foto: M. David, Sammlung M. David


Publication History

Article published online:
13 September 2022

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  • Literatur

  • 1 Reichsarbeitsgemeinschaft für Mütter und Kind. Richtlinien für die Einrichtung und den Betrieb einer Frauenmilchsammelstelle. Sonderdruck aus: Der öffentliche Gesundheitsdienst 1939; 5: 1-8
  • 2 Neussel H. Der Betrieb einer Frauenmilchsammelstelle (Im Vergleich zur Hilfe durch eine Nährmutter oder Amme) [Medizinische Dissertation]. Düsseldorf: Medizinische Akademie Düsseldorf; 1964
  • 3 Sunder-Plaßmann A. Frauenmilch-Ernährung Eine alte Idee in neuem Licht Zur Geschichte der Frauenmilchbanken in Deutschland. Frühgeborene 2020; 1: 16-18
  • 4 Schmidt H. Die Geschichte und gesellschaftliche Bedeutung der Frauenmilchsammelstellen in Deutschland sowie ihres Erfurter Zentrums in den Jahren 1926 bis 1950. Dissertation zu Promotion B. Leipzig: Karl-Marx-Universität; 1983
  • 5 Kayser ME. Frauenmilch-Sammelstelle (F.M.S). Monatsschr Geburtsh Gynäkol 1930; 84: 293-308
  • 6 Kollwitz K. Briefe der Freundschaft. 16. Dezember 1921. Accessed July 27, 2022 at: https://www.kollwitz.de/plakat-muetter-gebt-von-eurem-ueberfluss-
  • 7 Kayser ME. Frauenmilchsammelstellen: Ein Leitfaden für deren Einrichtung und Betrieb. Jena: Gustav Fischer; 1940
  • 8 Sunder-Plaßmann A. Wie wertvoll ist Muttermilch? Die Ernährung Früh- und Neugeborener seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Z Geburtshilfe Neonatol 2016; 220: 239-250 DOI: 10.1055/s-0042-116443. (PMID: 28002856)
  • 9 Koslow WP, Möller H, Mironienko SW, Tschubarjan AO, Weber H. SMAD-Handbuch: Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945–1949. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag; 2014. DOI: 10.1524/9783486708578
  • 10 Toussaint J. Jeder Tropfen Frauenmilch ist kostbar: vom Nahrungsmittel zur Heilnahrung Aspekte der Medikalisierung am Beispiel der Frauenmilchsammelstelle Potsdam. Magisterarbeit am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin: Humboldt-Universität; 2002
  • 11 Tews G. Mit dem Milchauto in Berlin unterwegs. „Neue Zeit“; 13.02.1978
  • 12 Kayser K. Entstehung der Frauenmilchsammelstellen und ihre Bedeutung. Zentralbl Gynäkol 1954; 76: 786-795
  • 13 Böttger R, Jorch G. Frauenmilchbanking im Perinatalzentrum. Neonatologie Scan 2015; 1: 45-60 DOI: 10.1055/s-0034-1391349.
  • 14 AWMF. Angemeldetes Leitlinienvorhaben: Einsatz und Behandlung von eigener und gespendeter Muttermilch in der Neonatologie. Registernummer: 024–026. Anmelder bei der AWMF: C. Bührer 04.01.2019 Accessed July 27, 2022 at: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/024–026.html