Balint Journal 2022; 23(02): 33
DOI: 10.1055/a-1849-0492
Editorial

Liebe Leserin, Lieber Leser

Günther Bergmann

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verbürgt in ihrem Artikel 18 die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Mit der Gewissens- und Gedankenfreiheit wird jedermann garantiert, dass er seine Gedanken und sein Gewissen bilden darf, ohne hierbei staatlichem Zwang ausgesetzt zu sein. Artikel 18 verbietet nicht die Prägung des Gewissens durch Erziehung und Sozialisation. Aber er verbietet Zwang und unbewusst wirkende Einflussnahmen und Manipulationen. (UN- Menschenrechtscharta)

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“

- Marquis de Posa in „Don Carlos“ : Ein dramatisches Gedicht – v. Friedrich Schiller -

Liebe Leserin,

Lieber Leser

So hat es Friedrich Schiller in seinem Werk Don Carlos formuliert.

Dieser Einfall geht mir in den Tagen des dramatischen Krieges durch den Kopf – ein Krieg, der so nicht benannt werden darf - zumindest nicht in einem autokratischem System, in dem Wirklichkeiten geleugnet und Informationen gesteuert und zensiert werden.

Gedankenfreiheit als Errungenschaft der Aufklärung und als freie Assoziation, wie sie in den Raum der Gruppe gelegt werden soll - ein uns in unserer Arbeit geläufiger Begriff, eine Vorrausetzung und die Eingangsszene unserer Balintarbeit.

In Gruppen, in denen das nicht mehr möglich ist, herrschen autokratische Systeme, Denk- und Sprechverbote. Sie werden sich nicht durchsetzen – auch wenn der Preis wie in vergangenen Zeiten hoch sein könnte.

Wir wollen und sollten unseren Selbstanteil reflektieren – im Gegensatz zu den autokratischen Herrschern dieser Welt.

Frei assoziativ bringt mich das mit dem Begriff der Balintgruppen-Leitung in Verbindung.

Wie ist das Verhältnis von Balintgruppen - Leitung und Gedankenfreiheit:

„ Balint Group Leadership“=Balintgruppen-leitung, was meinen wir damit eigentlich?

Geht es um Leitung? Führung? In Gesprächen mit anglo-amerikanischen Kolleg:innen tauchen Begriffe wie „Facilitator“=Moderator oder „Promotor“=Förderer auf, gelegentlich auch „Enabler“=Ermöglicher, Möglichmacher. Übersetzungen können stimulieren!

Auf dem europäischen Balint Kongress in Brüssel im September 2022 ist ein Vortrag zum sogenannten „push.back“=zurückstoßen angekündigt - eine grandiose Fehlübersetzung der von uns in den Gruppen häufigen Anwendung des sogenannten „sich Zurücksetzens“. Wir meinen damit ein symbolisches „sich zurücksetzen“, keinesfalls ein „Zurückstoßen“, weder aktiv noch passiv. So kann ein groteskes und gleichzeitig grandioses Übersetzungsmissverständnis Anlass zu einer inhaltlich interessanten Diskussion werden ?!

Ermöglichen „enabling“, kann im englischen Sprachgebrauch auch eine negative Konnotation haben. Ist eine Gruppe nur mit „Leitung“ vorstellbar oder sollte der Charakter, das Selbstverständnis und die Haltung einer zukünftigen Balintgruppen-Leitung nicht ein „Facilitating“, ein Moderieren oder ein Promoting, ein Fördern sein?

Ist der/die Leiter:in /Führer:in/Wissende, der/die damit (unbewusst) Macht ausübt?

All diese Gedanken kommen mir in diesen schrecklichen Kriegstagen und stellen die Gefahr zur Einschränkung von Gedankenfreiheit in uns allen und das damit verbundene Risiko zur Diskussion.

Ihnen wünsche ich Freude bei dem Zulassen und Wahrnehmen der freien assoziativen Gedanken bei der Lektüre dieses Heftes.

Ihr

Günther Bergmann



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Article published online:
30 June 2022

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