Psychother Psychosom Med Psychol 2022; 72(06): 233-234
DOI: 10.1055/a-1840-6991
Editorial

Altruismus in der Wissenschaft – oder: Über die Schwierigkeiten Gutachter zu finden

Altruism in Science – or: The Problems of Finding Reviewers
Bernhard Strauß

Nachdem ich aus Überlastungsgründen die Einladung, als Gutachter eines Artikels zu fungieren Anfang des Jahres ablehnen musste, erhielt ich die E-Mail-Nachricht der Herausgeberin einer renommierten Zeitschrift auf dem Feld der Öffentlichen Gesundheit mit folgendem (übersetzten) Wortlaut:

„Danke für Ihre Antwort. Wir bedauern, dass Sie sich nicht in der Lage sehen, das Manuskript zu begutachten. Aktuell haben wir 38 Reviewer für diese Arbeit eingeladen, allerdings hat kein einziger die Einladung angenommen. Könnten Sie uns denn bitte potentielle Gutachter empfehlen, die Ihnen bei diesem Inhalt einfallen? Vielen Dank für Ihre Hilfe ….“

Die PPmP hat ein Problem dieses Ausmaßes glücklicherweise (noch) nicht, u. a. dank eines aktiven Beirats. Dennoch ist auch in dieser Zeitschrift zu beobachten, dass Jahr für Jahr ein wenig mehr Einladungen an Reviewer nötig werden, bis die nötige Zahl (von 2 unabhängigen Gutachter*innen für jede eingereichte Arbeit) erreicht wird.

Nicht nur im Zeitschriftenkontext ist es zunehmend schwieriger geworden, wissenschaftliche Gutachter*innen zu finden. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) erfährt Ähnliches und berichtet (z. B. [1]), dass die Zahl der Gutachteranfragen in einem 10-Jahreszeitraum drastisch zugenommen hat, um eine weitgehend konstante Zahl an Gutachten für Forschungsanträge zu gewährleisten.

Es mag viele Gründe für die Phänomene geben: Der Druck, leistungsorientierten Mittelvergabesystemen zu entsprechen, in denen „altruistische wissenschaftliche Tätigkeiten“, wie Zeitschriften – und Antragsbegutachtungen oder Mentor*innenaktivitäten nicht relevant sind, ist sicherlich einer davon. Auch die Inflation an Publikationen und Publikationsorganen trägt dazu bei, dass selbst willige Kolleg*innen bei fast täglich eingehenden „Review Requests“ immer häufiger passen müssen.

Der evolutionstheoretisch orientierte Philosoph David Hull [2] hat sich zum Altruismus in der Wissenschaft geäußert und dargelegt, dass Wissenschaft notwendigerweise „kompetitiv und elitistisch“ ist, ja sogar sein muss, um eine Evolution wissenschaftlicher Ideen (i.S. eines survival of the fittest) zu ermöglichen, wobei er sich einer Analogie des Prozesses biologischer Evolution und der Entwicklung der Wissenschaft bedient.

Auch im Kontext der Disziplinen dieser Fachzeitschrift gibt es (wissenschaftssoziologische) Überlegungen zur Frage, welchen Gesetzmäßigkeiten die Entwicklung der Wissenschaften eigentlich folgt. Marvin Goldfried, Psychotherapeut, Psychotherapieforscher und Mitbegründer der „Society for the Exploration of Psychotherapy Integration (SEPI)“ wurde in den letzten Jahrzehnten nicht müde, immer wieder die Notwendigkeit anzumahnen, ein „Kernverständnis“ (Core knowledge) bezüglich der Wirkung von Psychotherapie zu definieren und beklagt gleichzeitig, dass es allzu viele Hindernisse (unter anderem das enge „Schulendenken“ in der Psychotherapie) gibt, die diese Bemühungen verhindern und verzögern [3] [4].

Einen wichtigen Grund für die Verhinderung eines konstruktiveren Austausches unter Psychotherapieforscher*innen sieht Goldfried in den veränderten Spielregeln der Wissenschaft.

Goldfried beschreibt Mertons [5] – seiner Meinung nach – naive Sicht der (altruistischen) Wissenschaft, und die angesichts eines wachsenden Wettbewerbs re-formulierten Normen, wie sie Mitroff [6] etwa 30 Jahre später publizierte. Die Positionen der beiden Autoren sind in [Tab. 1] gegenübergestellt.

Tab. 1 Veränderte Normen der Wissenschaft

Wissenschaftsnormen nach Merton [5]

Wissenschaftsnormen nach Mitroff [6]

Universalismus: Verfügbarkeit objektiver und allgemein akzeptierter Kriterien für die Bewertung von Wissen

Partikularismus: Urteile zur Bewertung auf der Basis der Erfahrung einzelner

Kommunalität: Wissen und Erkenntnisse gehören der wiss. Gemeinschaft

Solitarismus: Wissen und Ergebnisse werden nicht geteilt (wer recht hat, ist wichtiger als das was richtig ist)

Interessenlosigkeit: Wissen wird nur generiert, um das Feld voranzubringen

Spezifische Interessen: Wissen dient der Anerkennung einzelner Forscher*innen und dem eigenen Fortkommen

Organisierter Skeptizismus: persönliche Sichtweisen werden beiseitegelegt, Ergebnisse kontinuierlich hinterfragt

Organisierter Dogmatismus: Skepsis nur gegenüber der Ergebnisse Anderer, Überzeugung, dass eigene Sichtweisen korrekt sind

Zurück zu unserem Ausgangsproblem: Wie finden wir trotz aller Egoismen Gutachter*innen, um das Alltagsgeschäft einer wissenschaftlichen Zeitschrift weiterhin gut erledigen zu können?

Dass Altruismus eigentlich belohnend wirkt, wurde schon früh etwa von Weiss et al. [7] in einem Experiment gezeigt, in dem die Autoren zeigen konnten, dass Menschen eine konditionierte Reaktion eher lernen, wenn sie damit belohnt werden, dass andere Menschen von einem Leidenszustand befreit werden. Mittlerweile zeigen zahlreiche neurobiologische Studien, dass altruistische Handlungen das Belohnungssystem aktivieren [8].

Hoffentlich sind diese Anreize ausreichend. Es wäre allzu schade, wenn eine Zeitschrift wie die PPmP Einreichungen nur noch von Kolleg*innen zulassen könnte, die mindestens einmal im Jahr auch als Gutachter*in tätig waren ….



Publication History

Article published online:
09 June 2022

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