Osteologie 2022; 31(02): 126-128
DOI: 10.1055/a-1820-9541
Osteoporose-Update

Imminentes Frakturrisiko[*]

Friederike Thomasius

Das „Imminente Frakturrisiko“ ist aktuell Thema vieler Publikationen. Dabei ist es kein neues Thema, denn bereits Auswertungen vor 20 Jahren belegen, dass eine vertebrale Fraktur und in einem noch größeren Ausmaß mehrere vertebrale Frakturen mit einem deutlich erhöht liegendem Frakturrisiko innerhalb des ersten Jahres nach Frakturereignis verbunden sind.

Es ist deswegen naheliegend, die neu aufgeflammte Diskussion aus dem Blickwinkel der erweiterten therapeutischen Möglichkeiten durch Zulassung eines zweiten osteoanabol wirkenden Medikamentes zu sehen.

Das Update Osteoporose befasst sich deswegen in dieser Ausgabe mit den Daten zum imminenten Frakturrisiko und den therapeutischen Möglichkeiten zur Senkung desselben, einem Thema, das wichtig für das Kapitel Therapie der Osteoporose in der Aktualisierung der Leitlinie ist.

Hierfür sollen zwei jüngst erschienene Publikationen in den Vordergrund gestellt werden, vorweg Hintergrunddaten zum imminenten Frakturrisiko

Hintergrunddaten zum Imminenten Frakturrisiko

2001 publizierte Lindsay [1] eine Analyse zu Daten aus vier großen Zulassungsstudien. Es waren Ergebnisse, die aus den Placebogruppen postmenopausaler Studienpatientinnen gewonnen wurden, bei denen der Status der Wirbelfraktur bei Studienbeginn bekannt war (n=2725), dies mit einem Durchschnittsalter von 74 Jahren. Das Ergebnis: Die kumulative Inzidenz neuer Wirbelfrakturen im ersten Jahr betrug 6,6%. Die Prävalanz einer oder mehrerer Wirbelfrakturen bei Studienbeginn erhöhte das Risiko für ein Wirbelfraktur im ersten Studienjahr um das Fünffache im Vergleich zur Inzidenz bei Probanden ohne prävalente Wirbelfraktur (RR, 5,1; 95% Konfidenzintervall CI, 3,1–8,4; P<0,001). Bei den 381 Teilnehmern, bei denen eine Wirbelfraktur auftrat, lag die Inzidenz einer neuen Wirbelfraktur im Folgejahr bei 19,2% (95% CI, 13,6–24,8%). Dieses Risiko war ebenfalls erhöht, wenn bereits Wirbelfrakturen vorlagen (RR, 9,3; 95% CI, 1,2–71,6; P=0,03).

Risikofaktor für eine inzidente Fraktur war also die vorhergehende Fraktur.

Und mit vielen weiteren Studien und Analysen wuchs der Beleg dafür, dass das Risiko einer nachfolgenden osteoporotischen Fraktur unmittelbar nach der Indexfraktur am höchsten ist und mit der Zeit abnimmt [2]. Hierzu zwei weitere Beispiele aus vielen.

In einer niederländischen Studie mit 4140 postmenopausalen Frauen mit bekannter Frakturvorgeschichte traten nach einer ersten Fraktur 23% aller nachfolgenden Frakturen innerhalb eines Jahres und 54% innerhalb von 5 Jahren auf. Vom Zeitpunkt der ersten Fraktur an betrug das relative Risiko (RR) für nachfolgende Frakturen 2,1 (95% CI 1,7 bis 2,6) und blieb über 15 Jahre hinweg erhöht. Das Frakturrisiko wurde für Zeitintervalle berechnet, innerhalb eines Jahres nach einer ersten Fraktur betrug das RR 5,3 (95% CI 4,0 bis 6,6), innerhalb von 2–5 Jahren 2,8 (95% CI 2,0 bis 3,6), und innerhalb von 6–10 Jahren 1,4 (95% CI 1,0 bis 1,8) [3].

In der Reykjavik-Studie, einer Stichprobe der isländischen Bevölkerung (n=18 872), wurden alle Frakturen der Teilnehmer ab ihrem Eintritt in die Studie bis zum 31. Dezember 2012 erfasst. Über einen Zeitraum von 10 Jahren traten bei 28% der 1498 Personen mit einer Index-Hüftfraktur Frakturen auf. Bei anderen Index-Frakturen lag der Anteil zwischen 35 und 38%. Nach jeder Index-Fraktur war das Risiko einer Folgefraktur in der Zeit unmittelbar nach der Fraktur am höchsten und nahm mit der Zeit deutlich ab. 31–45% derjenigen, die eine erneute Fraktur erlitten, frakturierten innerhalb eines Jahres nach Indexfraktur. Dies spiegelte sich in den Risikogradienten wider (2,6–5,3, je nach Frakturstelle), die im Laufe von 10 Jahren abnahmen (1,5–2,2) [4].

Die ersten zwei Jahre nach dem Indexereignis einer Fraktur wurden deswegen als Zeitraum des „imminenten Risikos“ definiert. Diese Hochrisikosituation führte zu Diskussionen hinsichtlich einer rasch wirkenden und besonders potenten pharmakologischen Behandlung, die so schnell wie möglich eingeleitet werden sollte.

Aktuelle Publikationen Osteoporosetherapie bei imminent erhöht liegendem Frakturrisiko

Eine Arbeitsgruppe der Europäischen Gesellschaft für klinische und wirtschaftliche Aspekte der Osteoporose, Osteoarthritis und muskuloskelettale Erkrankungen (ESCEO) wurde 2021 einberufen, um aktuelle Empfehlungen zu Strategien für die Identifizierung und sequentielle Behandlung mit anabolen und antiresorptiven Medikamenten zu prüfen und zusammenzufassen. Die Gruppe umfasste 25 Experten aus 13 Ländern mit Fachkenntnissen in den Bereichen Osteoporose, Rheumatologie, Geriatrie, klinische Chemie, Epidemiologie, Forschung im Gesundheitswesen, Gesundheitsökonomie und Arzneimittelsicherheit. Ein publizierter Konsensbericht fasst die Ergebnisse der Arbeitsgruppe der aktuellen Literatur und die daraus resultierenden Empfehlungen zusammen:

Curtis, E. M., Reginster, J. Y., Al-Daghri, N., Biver, E., Brandi, M. L., Cavalier, E., … & Cooper, C. (2022). Management of patients at very high risk of osteoporotic fractures through sequential treatments. Aging Clinical and Experimental Research, 1–20

Hierin werden die verschiedenen klinischen Situationen, bei denen von einer deutlichen Erhöhung des Frakturrisikos auszugehen ist, definiert, die die bereits zuvor genannten umfassen: „Kürzlich aufgetretene Frakturen und eine supraphysiologische Kortikosteroidbehandlung“, einen Zeitrahmen von 2 Jahren nach Indexfraktur und betonen, dass „Risikofaktoren, die mit einem höheren kurzfristigen Risiko verbunden sind in der Regel auch mit einem hohen Langzeitrisiko verbunden sind“. Osteoporose-eine chronische Erkrankung.

Therapeutisch wird zusammengefasst, dass es „zunehmend Hinweise dafür gebe, dass die Osteoanabolika Teriparatid, Abaloparatid (nicht in Deutschland zugelassen) und Romosozumab den antiresorptiven Wirkstoffen in Bezug auf Wirksamkeit und Schnelligkeit der Wirkung überlegen sind, wie auch in ihrer Fähigkeit, die Knochenmineraldichte zu erhöhen und Frakturen zu verhindern.“ In Zahlen:

Teriparatid senkt in Vergleich zu einer oralen Bisphosphonattherapie das Frakturrisiko für vertebrale Frakturen und klinische Frakturen stärker. Dies belegt die VERO Gruppe mit 1360 Patientinnen. Es handelte sich um eine Doppelblindstudie an postmenopausalen Frauen mit mindestens zwei mittelschweren oder einer schweren Wirbelfraktur und einem BMD-T-Score≤-1,5 bei Studieneintritt bei erlaubter vorheriger antiresorptiver Therapie. Die Randomisierung erfolgte auf 20 µg Teriparatid sc oder 35 mg orales Risedronat einmal wöchentlich über 24 Monate, wobei 680 Patientinnen in jeder Gruppe waren. Der primäre Endpunkt waren neue radiologische Wirbelfrakturen: Nach 24 Monaten traten neue Wirbelfrakturen bei 28 (5,4%) von 680 Patienten in der Teriparatid-Gruppe und 64 (12,0%) von 680 Patienten in der Risedronat-Gruppe auf (Risikoverhältnis 0,44, 95% CI 0,29, 0,68; p<0–0001). Auch die klinischen Frakturen (ein Kompositum aus nicht-vertebralen und symptomatischen vertebralen Frakturen) wurden reduziert (Hazard Ratio 0,48, 95% CI 0,32, 0,74; p=0,0009), wobei kein signifikanter Unterschied bei den nicht-vertebralen Fragilitätsfrakturen beobachtet wurde, dies konnte in später veröffentlichen Metaanalysen und Subgruppenanalysen jedoch gezeigt werden [5] [6] [7]

Romosozumab senkt im Vergleich zu dem oralen Bisphosphonat Alendronat das Frakturrisiko für vertebrale Frakturen und klinische Frakturen stärker. In der ARCH-Studie wurden 4093 Frauen im Alter von 55 bis 90 Jahren mit prävalenten osteoporotischen Frakturen entweder mit Romosozumab 210 mg einmal monatlich subkutan oder Alendronat 70 mg einmal wöchentlich oral über ein Jahr doppelblind therapiert. Alle Teilnehmer erhielten anschließend für den Rest der Studie Alendronat in offener Dosierung in einem Time-to-Event-Design mit einer medianen Behandlungsdauer von 2,7 Jahren (33 Monaten). Romosozumab gefolgt von Alendronat war wirksamer als Alendronat bei der Verhinderung von Wirbelfrakturen nach 24 Monaten (Risikoverhältnis 0,52; Inzidenz 6,2% gegenüber 11,9%; p<0,001) und von klinischen Frakturen zum Zeitpunkt der primären Analyse, den ko-primären Endpunkten (Risikoverhältnis 0,73; Inzidenz 9,7% gegenüber 13,0%; p<0,001). Darüber hinaus war das Risiko für nicht-vertebrale Frakturen in der Romosozumab-zu-Alendronat-Gruppe um 19% geringer als in der Alendronat-zu-Alendronat-Gruppe (Inzidenz 8,7 vs. 10,6%; p=0,04), und das Risiko für Hüftfrakturen um 38% geringer (Inzidenz 2,0 vs. 3,2%; p=0,02) [8].

Die genannten osteoanabolen Therapie müssen selbstverständlich wie jede Therapie unter Abwägung von Nutzen und Risiko eingesetzt werden. Hierbei sind die Kontraindikationen der Medikationen zu beachten und die Hinweise in den jeweiligen Fachinformationen.

Klinisch wird dies in der Empfehlung der Arbeitsgruppe so zusammengefasst:

„Wenn bei einer Person ein sehr hohes Frakturrisiko festgestellt wird (das mit Hilfe verschiedener Risikobewertungsmethoden ermittelt werden kann), wird eine Erstbehandlung mit einem osteoanabolen Medikament empfohlen. Diese sollten für die in den Verschreibungsrichtlinien empfohlene Dauer eingesetzt werden. Neben der osteoanabolen Therapie wird eine Konsolidierungsphase mit einer antiresorptiven Therapie (z. B. mit einem Bisphosphonat oder Denosumab) empfohlen“.

Ein klares Votum für Osteoanabol FIRST bei Hochrisiko und explizit imminent erhöht liegendem Frakturrisiko.

Eine weitere Publikation aus dem Dezember 2021 unterstreicht dies und benennt noch eine Therpiealternative:

Laura, Iconaru, et al. “Which treatment to prevent an imminent fracture?.” Bone reports 15 (2021): 101105.

Das Paper fasst anhand einer Bewertung von Metaanalysen (MA), Netzwerk – Metaanalysen (NMA) der letzten 10 Jahre und Randomisiert kontrollierten Studien zu den oralen Bisphophonaten, Zoledronat, Denosumab, Teriparatid, Romsozumab und Abaloparatid wie folgt zusammen:

  1. „Das Konzept des imminenten Frakturrisikos hat Auswirkungen auf die Wahl der Therapie.“

  2. „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei Patient*innen mit hohem Frakturrisiko der Beginn einer Therapie mit hochwirksamen antiresorptiven Wirkstoffen, intravenösem Zoledronat oder Denosumab, oder mit Osteonabolika am besten geeignet ist, um das Frakturrisiko rasch zu senken, da sie wirksamer sind und das Frakturrisiko schneller senken.

  3. In Ermangelung von Head-to-Head-Studien zum Vergleich von Osteoanabolika mit Zoledronat und Denosumab deutet die Analyse von NMA und MA auf eine höhere Wirksamkeit von Osteonabolika bei der Vorbeugung von Wirbelfrakturen und einen mäßigen Vorteil bei nicht-vertebralen Frakturen hin.

  4. Bei Denosumab und Osteoanabolika ist eine sequentielle Behandlung erforderlich, um die Erfolge nach dem Absetzen der Behandlung zu erhalten, aber das optimale Behandlungsschema für diese Therapien ist noch nicht mit Sicherheit definiert.“

Somit zeigt sich für die Patient*innen, die keine osteoanabole Therapie in der Hochrisikosituation zur Senkung des Imminenten Frakturrisikos erhalten können, eine weitere in Netzwerkanalysen favorisierte Therapiemöglichkeit auf: Die der hochpotenten antiresorptiven Therapie.

Einzig die orale Bisphosphonattherapie wird in dieser speziellen Hochrisikosituation nicht primär empfohlen, sie benötigt zu lange, um das Frakturrisiko zu senken, sodass sie nicht primäre Wahl bei imminent erhöht liegendem Frakturrisiko sein kann.

Zoom Image
Abb. 1 Skizze eines empfohlenen Ansatzes für eine sequentielle Therapie: Bei Patient*innen mit schwerer Osteoporose und hohem Frakturrisiko nach einer Frakturrisikobewertung wird eine osteoanabole Therapie für 1–2 Jahre empfohlen (Dauer entsprechend der Verschreibungsrichtlinien). Im Anschluss an diese osteoanaboleTherapie wird eine Konsolidierungsphase mit einer antiresorptiven Therapie (z.B. mit einem Bisphosphonat oder Denosumab) empfohlen. Ein Monitoring, einschließlich der Bewertung der Therapieadhärenz und der Neubewertung des Frakturrisikos, ist erforderlich (Quelle: Curtis EM, Reginster J-Y, Al-Daghri N et al. Management of patients at very high risk of osteoporotic fractures through sequential treatments. Aging Clinical and Experimental Research 2022: 1–20), https://creativecommons.org/licenses/

Dass eine schwere Osteoporose mit einer verminderten Knochenqualität einhergeht, die mit einer antiresorptiven Therapie nicht verändert wird, versucht folgende Abbildung aus dem Konsensuspaper der ESCEO Arbeitsgruppe hervorzuheben verbunden mit einem klaren Statement zu Osteoanabol FIRST.

* assoziiertes Bedeutungsfeld im Deutschen für „imminent“: drohend/kurzfristig betont/sich abzeichnend/unmittelbar bevorstehend/sich anbahnend (Quellen: DeepL.com und Duden)




Publication History

Article published online:
30 May 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Lindsay R. et al. “Risk of new vertebral fracture in the year following a fracture”. Jama 2001; 285 3 320-323
  • 2 Kanis JA. et al. “Algorithm for the management of patients at low, high and very high risk of osteoporotic fractures”. Osteoporosis International 2020; 31 (01) 1-12
  • 3 van Geel TA, van Helden S, Geusens PP, Winkens B, Dinant GJ. Clinical subsequent fractures cluster in time after first fractures. Ann Rheum Dis 2009; 68: 99-102
  • 4 Kanis JA. et al. “Characteristics of recurrent fractures”. Osteoporosis International 2018; 29 8 1747-1757
  • 5 Kendler DL. et al. “Effects of teriparatide and risedronate on new fractures in post-menopausal women with severe osteoporosis (VERO): a multicentre, double-blind, double-dummy, randomised controlled trial”. The Lancet 2018; 391 10117 230-240
  • 6 Díez-Pérez A. et al. “Effects of teriparatide on hip and upper limb fractures in patients with osteoporosis: a systematic review and meta-analysis”. Bone 2019; 120: 1-8
  • 7 Geusens P. et al. “Effects of teriparatide compared with risedronate on the risk of fractures in subgroups of postmenopausal women with severe osteoporosis: the VERO trial”. Journal of Bone and Mineral Research 2018; 33 5 783-794
  • 8 Saag KG, Petersen J, Brandi ML, Karaplis AC, Lorentzon M, Thomas T, Maddox J, Fan M, Meisner PD, Grauer A. Romosozumab or Alendronate for Fracture Prevention in Women with Osteoporosis. N Engl J Med 2017; 377: 1417-1427