Nervenheilkunde 2022; 41(07/08): 519
DOI: 10.1055/a-1772-0164
Buchbesprechungen

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Peter Brieger
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Basaglia’s International Legacy: From Asylum to Community

Tom Burns, John Foot (eds) Basaglia’s International Legacy: From Asylum to Community. Oxford: University Press 2020, 400 Seiten, 79,50 Euro, ISBN 9780198841012

Welche Relevanz hat die Reformpsychiatrie Basaglias, die „Psichiatria Democratica“ für unser heutiges psychiatrisches Handeln? Tom Burns, emeritierter Professor für Psychiatrie, Oxford, und John Foot, Professor für moderne italienische Geschichte, Bristol, beleuchten die Auswirkungen von Basaglias Psychiatriereform. Die italienische Legge 180 aus dem Jahr 1978 verfügte die Schließung aller psychiatrischer Anstalten und stattdessen den Aufbau gemeindepsychiatrischer Strukturen. Franco Basaglia, charismatischer Direktor der Anstalten erst in Görz und später Triest, war Initiator und Motor des Gesetzes. Er wurde 1924 geboren und starb 1980 56-jährig, sodass er die Auswirkungen dieser Reform nicht mehr selber erleben konnte. Das Buch betrachtet die Einflüsse, die die Reform Basaglias nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern auf die psychiatrischen Strukturen hatten.

Basaglia polarisiert bis heute: Es gibt die Apologeten und es gibt die Personen, die ihn für einen Scharlatan halten oder für einen politischen Wirrkopf – dazwischen scheint es wenig zu geben. Das Buch versucht über solche Polarisierungen hinaus zu gehen. Es versucht mit einer reflektierten Grundhaltung darzustellen, was bis heute Bestand hat. Daraus erwächst in dem Buch eine Auseinandersetzung mit psychiatrischen Versorgungsstrukturen und der Ideengeschichte seelischer Störungen. Überraschend in diesem Sammelband, dessen Kapitel von Experten aus den jeweiligen Ländern verfasst wurden, ist, wie viele Fragen bis heute unbeantwortet blieben und wie divers die Versorgungssysteme in den dargestellten Staaten bis heute sind. Das Buch ist gut lesbar, wenn auch nicht alle Beiträge das gleiche Niveau erreichen.

Der Boom der Antipsychiater lief parallel zur 1968er-Bewegung. Tom Burns verortet diesen Hintergrund klug in seinem Kapitel und bezieht diesen auf Basaglias Werk. Einen lebensgeschichtlichen Abriss Franco Basaglia stellt John Foot dar. Er hatte bereits 2015 eine Biografie von Basaglia verfasst. Basaglia war selbst kein Antipsychiater, er hat sich beispielsweise von Laing und Cooper abgesetzt. Zur „deutschen Psychiatrie“ hatte er zeitlebens wenig Kontakt, für die hiesige Rezeption hat ihm auch sein als zu unkritisch wahrgenommener Kontakt zum Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) geschadet. Die Psychiatrie Enquete, das stellen Marazia und Kollegen in ihrem Beitrag dar, hat kaum Bezug auf Basaglia genommen und vice versa. In einem polemischen Artikel im Deutschen Ärzteblatt war Kurt Heinrich 1980 als Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie in Düsseldorf zu dem Ergebnis gekommen, dass Basaglias Ideen den psychisch kranken Menschen schadeten.

In anderen Ländern prägt die Reform von Basaglia Versorgungskonzepte bis heute, so z. B. in Italien, Spanien, Argentinien und Brasilien. In Mozambique prägten die Ideen für kurze Zeit die Gesundheitspolitik, was dann aber rasch wieder verlassen wurde. In den USA, Frankreich, Griechenland, Schweden und Frankreich dagegen gab es durchgängig wenig Niederschlag. Interessant sind die Berichte aus damaligen „Ostblockländern“ zu lesen (z. B. Polen und Jugoslawien), in denen Bezug auf Basaglia genommen wurde.

Interessant ist die geringe Rezeption seiner Ideen im Vereinigten Königreich (UK). Das UK ist – wie Tom Burns ausführt – in Fragen der Deinstitutionalisierung führend: Das Verbot der mechanischen Fixierung im 19. Jahrhundert, die Öffnung der Kliniken ab dem Jahr 1943 und der Beginn der Enthospitalisierung ab den 1960er-Jahren führten dazu, dass bereits vor einem halben Jahrhundert ambulante und aufsuchende gemeindepsychiatrische Angebote selbstverständlich waren.

In ihrem Resümee benennen die Herausgeber offensichtliche Defizite von Basaglia wie beispielsweise den geringen Einbezug von Hausärzten, von spezialisierter Versorgung und die sehr männlich dominierten Führungsstrukturen. Sie weisen in diesem Kontext auch auf die Studie von Jones und Poletti (1984 und 1985) hin, die ihre Reisen durch die psychiatrischen Einrichtungen Italiens im British Journal of Psychiatry dargestellt hatten: Sie hatten berichtet, dass Schein und Sein dort weit auseinander klafften, was zu einer hitzigen Debatte führte – die bis jetzt noch nachwirkt. So ist es bis heute offensichtlich gar nicht so einfach zu definieren, was ein psychiatrisches Krankenhaus ist. Dennoch verweisen sie abschließend auf den Gewinn, der aus der durch Basaglia angestoßenen Deinstitutionalisierungsdebatte weiterhin erwächst. Durch das ganze Buch zieht sich das Motto der Reform von Basaglia, das auch das Titelbild ziert und der heutigen Psychiatrie einen Spiegel vorhält: „La Libertà e Terapeutica“ – Freiheit heilt.

Peter Brieger, Haar



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Article published online:
28 July 2022

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