PiD - Psychotherapie im Dialog 2022; 23(02): 95
DOI: 10.1055/a-1686-1824
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März 2022

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(Quelle: © daskleineatelier/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by models)

Nach einiger Zeit der Dienstreisenabstinenz saß ich wieder im Zug: Vorstandssitzung in Präsenz. Welch eine besondere Erfahrung! Nicht das Aufploppen der Kolleg*innen auf unterschiedlichen Kacheln, sondern ein reales Treffen! Zwar mit Maske und Abstand, aber Kontakt! Wie lange war das her? Selbst früher als eher spröde wahrgenommene Tagesordnungspunkte wurden in einer freudvoll anmutenden Akzeptanz abgearbeitet, und an einigen Punkten entwickelte sich eine bis dato selten erlebte Neigung zu übermütiger Blödelei, obwohl es nun wirklich nicht Vieles gab, was zu ausgelassener Stimmung Anlass gegeben hätte. Durfte man sich in diesen Zeiten freuen, sich persönlich zu sehen? Bei immer noch und wieder täglich hohen und höheren Fallzahlen von Infektionen mit dem Corona-Virus? Und dann war da noch dieser Krieg…

Im Berliner Hauptbahnhof sah ich Plakate für Geflüchtete aus der Ukraine, die Wegweiser und Warnungen vor Übergriffen bei unseriösen Angeboten für Notunterkünfte. Die Toiletten, vor Wochen noch gutes Geschäft mit primären menschlichen Bedürfnissen, wurden kostenfrei zur Benutzung angeboten. Hier fanden sich Kartons zum Sammeln von Hygieneartikeln, und die Schlange, die sich gebildet hatte, wurde von den Wartenden klaglos ertragen. War es überflüssig zu betonen, dass sich die Welt offensichtlich geändert hatte?

Aus der Sitzung hatte ich ein Lunchpaket in meiner Tasche: Brötchen, Sandwich, Süßes, Apfel, Banane… Service für möglicherweise hungrige Vorstandsmitglieder auf der Rückreise. Der Zug füllte sich schnell mit Geflüchteten. Unsichere Blicke, Erklärungen über Sitzplatzreservierungen auf Englisch. Schräg vor meinem Platz hatten zwei im Alter unterschiedliche Frauen mit drei Kindern Platz an einem Vierer-Tisch gesucht. Die jüngere der beiden Frauen stand im Gang und traute sich offensichtlich nicht zu fragen, ob sie statt der Taschen, die auf Sitzplätzen abgestellt waren, dort Platz nehmen konnte. Ich tippte sie an und bedeutete ihr, dass der Platz neben mir frei sei. Dann fiel mir ein, dass das Lunchpaket sowieso für meine Corona-Figur des Guten zu viel sein würde. Ich schob die Papiertüte auf das Tischchen vor meiner Sitznachbarin und versuchte, ihr auf Englisch zu erklären, was sich darin befände und dass sie es bitte nehmen möge. Sie sah mich an, fing an zu weinen und nahm mich in die Arme. So hielten wir uns dann eine Weile, und ich hörte mich unter Tränen immer wieder sagen, alles sei o. k. …

Dabei waren wesentliche Teile unseres Lebens eben genau das nicht mehr: in Ordnung.

Dr. Bettina Wilms, Querfurt



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Article published online:
18 May 2022

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