Die Wirbelsäule 2022; 06(02): 62-64
DOI: 10.1055/a-1677-1382
Referiert und kommentiert

Kommentar zu: Sagittale spinale Balance nach Spinalkanaldekompression

Sven Kevin Tschöke
1   Klinik für Wirbelsäulenchirurgie, Klinikum Dortmund gGmbH, Dortmund, Deutschland
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Die Sarkopenie ist mit einer weltweiten Prävalenz von ca. 2% bei Erwachsenen zwischen dem 40. und 79. Lebensjahr ein eher selten beobachtetes Krankheitsbild und vom Verlust an Muskelmasse gekennzeichnet [1]. Wenngleich nicht alle Patienten in dieser Altersgruppe mit degenerativen Pathologien im Bereich der Lendenwirbelsäule das Vollbild der Sarkopenie präsentieren, so lässt sich in der Mehrheit der Fälle eine deutliche Hypotrophie und fettige Degeneration der paraspinalen Muskulatur erkennen. Die damit einhergehend reduzierte Funktionsfähigkeit der lumbalen Rücken- und Bauchmuskulatur wird trotz unserer heutigen Kenntnisse zur spinopelvinen Biomechanik und sagittalen Balance noch weitestgehend unterschätzt.

Insbesondere in der strategischen Planung zur operativen Therapie lumbaler Spinalkanalstenosen mit begleitender sagittaler Dysbalance, wird überdurchschnittlich häufig aufgrund der vermeintlich mangelnden muskulären Kompensation für eine korrigierende und instrumentiert stabilisierende Vorgehensweise plädiert.

Yoshida und Kollegen haben nun mit ihrer retrospektiven Studie von insgesamt 92 Patienten eine klinische Beobachtung aufgegriffen, die in den letzten Jahren hinsichtlich der erforderlichen Kausaltherapie degenerativer Pathologien an der LWS auch in Europa zunehmend, jedoch immer noch kontrovers diskutiert wird. In der aktuell vorliegenden Studie konnten die Autoren zeigen, dass sich mit einer postoperativ (aktiv) optimierten lumbalen Lordose (LL) radiografisch sowohl der PI-LL Mismatch, wie auch die SVA signifikant verbesserten. Klinisch bestätigte sich diese Beobachtung in den signifikant verbesserten ODI- und SF-12-Auswertungen nach Dekompressionsoperation ohne Fusion.

Interessant war dabei die Erkenntnis, dass sich ein geringer präoperativer PI-LL Mismatch hinsichtlich der Tendenz zur postoperativen Verbesserung der sagittalen Balance als günstig erwies. Ähnliche Beobachtungen kennen wir aus verschiedenen Analysen zum Risiko der kranialen Anschlussdegeneration nach lumbaler Fusion. In diesem Zusammenhang wurden bereits ein großer PI-LL Mismatch sowie eine reduzierte LL als wesentliche Risikofaktoren identifiziert [2] [3] [4]. Eine neuere Erkenntnis der Arbeit von Yoshida und Kollegen ist jedoch die Bedeutung der segmental-bilateral paravertebralen Muskulatur (relative Cross-Sectional-Area (rCSA)) und das hiermit korrelierende Potenzial, eine sagittale Dysbalance funktionell ausbessern zu können.

Betrachtet man das mit der lumbalen Spinalkanalstenose typischerweise einhergehende, entlordosierende Ausweichverhalten der betroffenen Patienten, so erklärt sich die oft präsentierte klinische Symptomatik mit tieflumbalen Rückenbeschwerden und dorsalseitigen (pseudoradikulären) Beinschmerzen nicht selten durch diese funktionelle Fehlhaltung. Die schlussfolgernde Erkenntnis der verbesserten Sagittalbalance nach operativer Dekompression bestätigt auch die eigene klinische Beobachtung in Abwesenheit signifikant strukturell-kyphotischer Veränderungen der Wirbelsäule.

Yoshida und Kollegen haben mit ihrer Studie noch einmal mehr die Bedeutung der Muskelmasse und -Funktion in der Diskussion um die sagittale Dysbalance als im Wesentlichen dynamischen und somit teils reversiblen Prozess hervorgehoben. Dies sollte in der Wahrnehmung degenerativer Wirbelsäulenpathologien und der hieraus resultierenden Therapieplanung zwingend berücksichtigt werden. Nicht zuletzt bietet die hier beschriebene Erkenntnis möglicherweise neue Ansätze in der konservativ-prophylaktischen, aber womöglich auch postoperativen Therapie zur Sicherung, bzw. Wiederherstellung der sagittalen Balance. Untersuchungen zum Effekt der in Freizeit- und Leistungssport bewährten Elektromyostimulation (EMS) bei älteren Patienten und Patienten mit posturaler Instabilität zeigen bereits vielversprechende Ergebnisse und könnten auch bei der funktionell-degenerativ bedingten sagittalen Dysbalance Anwendung finden [5].



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
17. Mai 2022

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  • Literatur

  • 1 Roubenoff R. Sarcopenia: a major modifiable cause of frailty in the elderly. J Nutr Health Aging 2000; 4: 140-142 (PMID: 10936900)
  • 2 Phan K, Nazareth A, Hussain AK. et al. Relationship between sagittal balance and adjacent segment disease in surgical treatment of degenerative lumbar spine disease: meta-analysis and implications for choice of fusion technique. Eur Spine J 2018; 27: 1981-1991 DOI: 10.1007/s00586-018-5629-6.. (PMID: 29808425)
  • 3 Matsumoto T, Okuda S, Maeno T. et al. Spinopelvic sagittal imbalance as a risk factor for adjacent-segment disease after single-segment posterior lumbar interbody fusion. J Neurosurg Spine 2017; 26: 435-440 DOI: 10.3171/2016.9.. (PMID: 28059683)
  • 4 Le Huec JC, Faundez A, Dominguez D. et al. Evidence showing the relationship between sagittal balance and clinical outcomes in surgical treatment of degenerative spinal diseases: a literature review. Int Orthop 2015; 39: 87-95 DOI: 10.1007/s00264-014-2516-6.. (PMID: 25192690)
  • 5 Alptekin K, Karan A, Dıracoglu D. et al. Investigating the effectiveness of postural muscle electrostimulation and static posturography feedback exercises in elders with balance disorder. J Back Musculoskelet Rehabil 2016; 29: 151-159 DOI: 10.3233/BMR-150611.. (PMID: 26406192)