Nervenheilkunde 2022; 41(01/02): 63-72
DOI: 10.1055/a-1650-2220
Geist & Gehirn

Künstliche Intelligenz

Von der Steinzeit über mathematische Intuition, Moleküle und Galaxien bis hin zu Corona-Tests
Manfred Spitzer

Von künstlicher Intelligenz im Sinne von selbsttätig lernenden neuronalen Netzwerken war an dieser Stelle schon mehrfach die Rede [33]–[36]. Immer dann, wenn es um die Vorhersage bei einem komplexen System oder Sachverhalt geht und sehr viele Daten vorliegen, kann man versuchen, diese Daten mit einer selbstlernenden Maschine zu analysieren, d. h. eine Maschine verwenden, um Strukturen in den Daten zu finden, die einem Menschen mit seiner begrenzten Lern- und Denkkapazität nicht auffallen würden. Das hat vor 5 Jahren beim Brettspiel Go erstmals weltweit sichtbar so richtig gut funktioniert: Die Aufgabe beim Go, den richtigen nächsten Spielzug von mehr als 10171 möglichen Spielzügen zu finden, ist zwar so groß, dass sich das Ergebnis prinzipiell nicht berechnen lässt (die Anzahl der Atome im gesamten Universum bzw. der beim Schach möglichen Spielzüge liegt jeweils etwa bei vergleichsweise „schlappen“ 1080 Möglichkeiten). Aber eine Maschine (genannt AlphaGo) der britischen Firma DeepMind [ 1 ] konnte anhand vieler vorhandener Go-Partien und anschließendem Weiterspielen gegen sich selbst lernen, das Spiel besser zu spielen als die weltbesten Menschen (März 2016). Im Oktober 2017 wurde gezeigt, dass eine neue Maschine (AlphaGo Zero), die von Anfang an nur gegen sich selbst spielte, bei 100 Spielen gegen AlphaGo 100-mal gewann und weit besser als die Menschen gute Spielzüge finden kann. Seither versuchen die weltbesten Go-Spieler zu verstehen, was die Maschine macht. Sie gewinnt immer. Während der vergangenen 5 Jahre wurde diese Technik in den verschiedensten Bereichen eingesetzt, wie an dieser Stelle in 2 Übersichten im Jahr 2021 dargestellt wurde: In der Medizin können Maschinen Flecken auf der Haut dermatologisch diagnostizieren (Krebs oder nicht?), Röntgenbilder beurteilen (dito), und vieles mehr [36].

Mittlerweile gibt es kaum noch eine Wissenschaft, in der nicht mit künstlicher Intelligenz (KI) gearbeitet wird. In der Sinnesphysiologie klassifizierte beispielsweise ein neuronales Netzwerk Moleküle nach deren Geruch [23] und konnte danach auch den Geruch von anderen (nicht im Training vorgekommenen) chemischen Substanzen vorhersagen. In der Chemie finden neuronale Netzwerke gangbare, aber bislang unbekannte Synthesewege [24], [26]. KI sucht und findet mittlerweile auch vollautomatisch Argumente beim Debattieren mit anderen Menschen, und das Militär verwendet neuronale Netzwerke, um Strategien des Einsatzes von Robotern bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zu entwickeln [36]. Im Folgenden werden ganz unterschiedliche Bereiche vorgestellt, an die man zunächst eher nicht denkt, wenn es um KI geht und in denen gerade in jüngster Zeit enorme praktische Fortschritte gemacht wurden.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
09. Februar 2022

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