intensiv 2021; 29(06): 282-283
DOI: 10.1055/a-1625-7918
Kolumne

Ein ganz besonderes Gedicht

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Quelle: Paavo Blåfield/Thieme

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“

(Hermann Hesse (1879–1962), deutsch-schweizerischer Schriftsteller, Dichter und Maler)

Diese wohl fast jedem bekannten Zeilen sind Teil des Gedichts „Stufen“ von Hermann Hesse aus dem Roman „Das Glasperlenspiel“ und werden dort dem Glasperlenspielmeister Josef Knecht zugedacht. Hesse beschreibt in diesem Gedicht das Leben als einen dynamischen Prozess, der bis zum Lebensende nicht endet. Das klingt jetzt alles sehr groß und gescheit. Aber wenn ich mich so umhöre, erfahre ich immer wieder von Neuanfängen. Großen, die gewichtig sind, oder kleinen, fast unbemerkten.

Zum Beispiel der subjektiv große Neuanfang bei meinem Sohn. Er wurde in der vergangenen Woche geschieden. Nach über zehnjähriger Beziehung, aber nur knapp dreijähriger Ehe und einem sehr aufwühlenden Trennungsprozess. Und auch wenn in unserer Familie Scheidungen nicht selten sind – wir sind eine sehr kleine Familie, bringen es aber auf sage und schreibe sieben Scheidungen –, ist es doch für ihn schlimm gewesen, und ich hoffe, dass er diese Erfahrungen und Geschehnisse auch als Chance für einen Neuanfang sieht. Genauso wie die knapp 150 000 Paare, die durchschnittlich in einem Jahr in Deutschland geschieden werden, oder unser Altkanzler Gerhard Schröder, der immerhin vier Mal geschieden wurde und nun zum fünften Mal verheiratet ist. Offensichtlich hielt er es auch mit dem Autor: „… sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben …“

Um es ein bisschen größer werden zu lassen, folgendes Beispiel – oder wie es Hesse sagt: „Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen …“ In unserer Klinik hat sich wieder einmal ein kaufmännischer Leiter verabschiedet. Mir ist nicht bekannt, unter welchen Umständen dies geschah. Sehr bezeichnend ist in diesem Fall allerdings, dass in meinen 15 Jahren in diesem Haus nun schon der fünfte oder sechste Protagonist in dieser Funktion die Segel gestrichen hat (irgendwann habe ich aufgehört mitzuzählen). Ein bisschen haben einige von uns schon damit gerechnet. Er war gewissermaßen eine Fata Morgana. Wenige kannten ihn oder wussten, wie er aussieht und ob und wann er jemals da war. Visionen oder Ideen für diese Klinik – Fehlanzeige. Immerhin waren einige schneidige Mails von ihm zu lesen. Aber der im Zitat beschriebene Zauber ist offensichtlich sowohl für ihn und ganz gewiss auch für uns ausgeblieben. Das „Erschlaffen“ war dafür umso größer. Eigentlich schade. Es ist doch anzunehmen, dass die Probleme der aktuellen Zeit einiges hergeben sollten, um einen KL in Aktion treten und bestenfalls sogar glänzen zu lassen. Aber was weiß ich schon!

Viele Lebensabschnitte sind ja irgendwie vorgegeben und werden, zum Beispiel von den Eltern, bestimmt und begleitet. Aber wenn man endlich erwachsen ist, muss man seine Geschicke selbst in die Hand nehmen. Berufswahl, Partnerwahl, eigene Kinder, wo und wie will ich leben. In Hermann Hesses Gedicht liest sich das so: „Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten …“

Dazu fällt mir eine meiner Kolleginnnen ein. Sie hat ihren 40. Geburtstag zum Anlass genommen, ihr Leben noch einmal umzukrempeln. Hat sich sowohl privat als auch beruflich neu orientiert. Ehe wir es überhaupt begriffen hatten, hatte sie schon gekündigt, ihre Umzugskisten gepackt, und ist nun auf und davon. Eine sehr mutige Entscheidung, und ich wünsche ihr nur das Beste. Hesse formuliert dazu sehrtreffend: „… Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen …“

Ich weiß, dass nicht jeder auf Gedichte steht. Viele halten sie für hausbacken, altmodisch und nicht mehr zeitgemäß. Aber manchmal sind sie einfach nur schön, berührend und regen zum Nachdenken an. Ich denke gerade bei diesem Gedicht, das Hermann Hesse übrigens 1941 geschrieben hat, wie zeitlos und wahr es auch heute ist. Auch wenn die Sprache eine scheinbar alte, antiquierte und vielleicht sehr gewöhnungsbedürftige ist.

Für fast jede Situation in unser aller Leben gibt es in diesem Gedicht zutreffende Zeilen. So auch, ganz aktuell, für die Flutopfer in NRW und Rheinland-Pfalz. Es ist unglaublich und unvorstellbar, was die Menschen dort seit Tagen durchmachen. „… Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde …“

Ganz zum Schluss will ich es mir aber nicht nehmen lassen, von meiner nächsten „Stufe“ und damit einem wichtigen unvermeidlichen Neuanfang zu schreiben. Die Rente, der Ruhestand steht an. Es ist ein bisschen gruselig, wenn ich daran denke, und doch bin ich wild entschlossen, das Beste daraus zu machen. Eine echte Lebensstufe. Und schließlich heißt es bei Hesse: „… Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne …“.

In diese Sinne

Ihre

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Heidi Günther

hguenther@schoen-kliniken.de



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Article published online:
03 November 2021

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