NOTARZT 2021; 37(06): 325-327
DOI: 10.1055/a-1607-3415
Leserbrief

Leserbrief zum Beitrag: "Chest Seals zur temporären Versorgung offener Thoraxverletzungen im Rahmen bedrohlicher Einsatzlagen"

Clemens Richter
1   Amt für Militärkunde, Berlin, Deutschland
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Sehr geehrter Herr Oberstabsarzt Dr. Kuhlwilm,

vielen Dank für Ihren interessanten Artikel zum Thema: „Chest Seals zur temporären Versorgung offener Thoraxverletzungen im Rahmen bedrohlicher Einsatzlagen“ [1].

Da dieses Thema meiner Meinung nach, auch im Hinblick auf zukünftige Handlungsempfehlungen für nichtmedizinisches Personal, intensiv diskutiert werden muss, soll dieser Leserbrief die Verwendung von Chest Seals ein wenig differenzierter betrachten.

Völlig zutreffend führt Ihr Artikel aus, dass die TCCC Guidelines und die Empfehlungen der TREMA, entgegen der GRC-Empfehlung, den temporären Wundverschluss offener Thoraxverletzungen mit einem Chest Seal für nichtmedizinisches Personal empfehlen.

An dieser Stelle muss grundsätzlich die Frage aufgeworfen werden, wann und inwieweit es überhaupt zielführend ist, Empfehlungen auszusprechen, die von einer evidenzbasierten Leitlinie deutlich abweichen.

Es ist unbestritten, dass in einer „bedrohlichen“ Einsatzlage unter Umständen nicht unmittelbar alle leitliniengerechten Interventionen anwendbar sind. Eine Maßnahme vor diesem Hintergrund zu empfehlen, deren Nutzen wissenschaftlich nicht vollständig belegt ist, wertvolle Zeit kostet, und genau wie Sie es in Ihrem Artikel zutreffend erwähnen, potenziell lebensgefährlich für den Patienten sein kann, bedarf in meinen Augen einer differenzierten Betrachtung.

Würden Einsatzkräfte und Medics in einer primär „bedrohlichen“ Einsatzlage den GRC-Leitlinien folgen und die Thoraxwunde offenlassen, würde man nicht nur Zeit sparen, sondern auch die Bedrohung für den Patienten nicht potenziell zusätzlich erhöhen. Die weitere, leitliniengerechte Behandlung könnte im Verlauf erfolgen, sobald es die Situation zulässt.

Dem von mir skizzierten Vorgehen könnte man selbstverständlich das Argument entgegenhalten, dass auf diese Weise ein Spannungspneumothorax nicht verhindert werden kann.

Die von Ihnen zitierte Arbeit von Kheirabadi et al. belegt, dass die Verwendung eines Chest Seals einen Spannungspneumothorax nur unter speziellen, situativen Bedingungen (z. B. Ventilmechanismus ausschließlich in der Pleura parietalis) verhindern kann. Wie häufig diese spezifischen, situativen Bedingungen tatsächlich in der Realität vorkommen, bedarf einer systematischen Erfassung, um diese Faktoren im realen Einsatz als Standard zu definieren.

Unabhängig davon beschreibt Ihr Artikel, dass bei penetrierenden Thoraxverletzungen häufig broncho- oder ösophagealopleurale Fisteln entstehen. In diesem Fall wäre die Applikation eines Chest Seals sogar kontraindiziert, da das Entweichen von Luft verhindert und somit ein iatrogener Spannungspneumothorax provoziert werden kann. Der Patient kann also durch den Einsatz eines Chest Seals in eine potenzielle Lebensgefahr gebracht werden, die vorher gar nicht bestand.

Auch Chest Seals mit Ventil bieten hierbei keine ausreichende Sicherheit. Genau wie es Ihr Artikel beschreibt, ist die Zuverlässigkeit der Ventile stark vom Ventiltyp abhängig. Abgesehen davon ist der Durchmesser der Ventilfläche eines handelsüblichen Chest Seals bestenfalls ca. 4 cm, was wiederum bedeutet, dass das Ventil nur dann gesichert funktioniert, wenn die Ventilfläche alle potenziellen Wundkanäle und Öffnungen probat abdeckt.

Man könnte argumentieren, dass das Risiko eines iatrogenen Spannungspneumothorax vertretbar ist, solange die Einsatzkraft vor Ort diesen bemerkt und damit umzugehen weiß.

Das dies keine Selbstverständlichkeit ist, veranschaulicht die Arbeit von Buschmann et al. [2], die aufzeigt, dass ein Spannungspneumothorax auch von professionellen Rettungsteams in nicht „bedrohlichen“ Einsatzlagen keineswegs zuverlässig erkannt und suffizient behandelt wurde.

Zusammenfassend bedeutet die Empfehlung zur Anwendung eines Chest Seals, dass ein „taktischer Ersthelfer“ in einer wahrscheinlich unübersichtlichen, stressigen, lauten und potenziell lebensbedrohlichen Einsatzsituation die Vitalfunktion des Patienten kontinuierlich überwachen muss, um einen Spannungspneumothorax sicher zu erkennen. Eine Applikation z. B. im Rahmen einer Triage-Situation ist dementsprechend sehr kritisch zu sehen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich dann die grundsätzliche Folgefrage: Rechtfertigt diese „bedrohliche“ Einsatzlage die Abweichung von Leitlinien und die Durchführung einer Maßnahme mit zweifelhafter Evidenz, welche einer permanenten Überwachung des Patienten bedarf und für den Patienten potenziell tödlich enden kann?

Alternative, nicht profitorientierte Pilotprojekte zeigen, dass es durchaus möglich ist, Einsatzkräfte und taktische Ersthelfer leitliniengerecht zu trainieren und die Ausbildung so zu gestalten, dass die Empfehlungen der entsprechenden Leitlinie an die jeweilige Bedrohungslage angepasst werden und der Patient trotzdem, der Lage entsprechend, optimal versorgt werden kann.

Im Falle einer offenen Thoraxverletzung kann also, entsprechend der Polytraumaleitlinie auch darüber diskutiert werden, ob Medics z. B., neben einer Entlastungspunktion, im weiteren Verlauf auch eine Minithorakotomie durchführen dürfen, sofern es die Einsatzlage zulässt.

Da in Lehrgängen der taktischen Medizin, basierend auf den TREMA/TCCC-Leitlinien, nichtmedizinischem Personal auch die Anlage eines i. v. Zuganges, die Applikation von Medikamenten und die Durchführung einer Koniotomie vermittelt und zugetraut wird, sollte eine Minithorakotomie und eine damit einhergehende leitliniengerechte Behandlung möglich sein.



Publication History

Article published online:
06 December 2021

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