Z Orthop Unfall 2022; 160(02): 198-206
DOI: 10.1055/a-1542-9327
Original Article/Originalarbeit

Sektorenübergreifende Rückenschmerz-Versorgungsanalyse von 1,4 Mio. AOK-Versicherten in Baden-Württemberg – welchen Einfluss hat die ambulante fachärztliche Versorgung?

Article in several languages: English | deutsch
Tom R. Jansen
1   Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Bonn, Deutschland
,
Heinz Endres
2   aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH, Göttingen, Deutschland
3   Epidemiologie, Ruhr-Universität Bochum, Deutschland
,
Lina Barnewold
2   aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH, Göttingen, Deutschland
,
Petra Kaufmann-Kolle
2   aQua – Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH, Göttingen, Deutschland
,
Sabine Knapstein
4   AOK Baden-Württemberg, Stuttgart, Deutschland
,
Andreas Christian Strauss
1   Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Bonn, Deutschland
,
Johannes Flechtenmacher
5   Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (BVOU), Berlin, Deutschland
6   Orthopädische Gemeinschaftspraxis, Ortho-Zentrum, Karlsruhe, Deutschland
,
Burkhard Lembeck
5   Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (BVOU), Berlin, Deutschland
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Hintergrund Rückenschmerzen sind eine der führenden globalen Ursachen für Invalidität und die häufigste muskuloskelettale Schmerzlokalisation in Deutschland. Die Lebenszeitprävalenz für Rückenschmerzen liegt je nach Region zwischen 74 und 85% und die Punktprävalenz bei 32 – 49%. Jeder 5. gesetzlich Versicherte geht mindestens einmal im Jahr wegen Rückenschmerzen zum Arzt und jeder 20. wird mindestens einmal im Jahr deswegen krankgeschrieben. Die Frage, inwieweit unterschiedliche ambulante Versorgungskonzepte einen substanziellen Beitrag leisten können zu einer Verbesserung der Versorgung bei Rückenschmerzen und zur Vermeidung von stationären Krankenhausbehandlungen ist wiederholt im politischen Raum kontrovers diskutiert worden. Ziel dieser Arbeit ist die deskriptive Darstellung der Versorgungsrealität in Baden-Württemberg anhand von Abrechnungsdaten einer großen deutschen Krankenkasse.

Material und Methoden Es wurden anonymisierte Abrechnungsdaten der AOK Baden-Württemberg (BW) unter Beachtung datenschutzrechtlicher Bestimmungen analysiert. Die Abrechnungsdaten umfassen den ambulanten und stationären Versorgungssektor. Für die Auswertung wurden alle AOK-Patienten in BW, die vom behandelnden Arzt aus dem ambulanten Bereich im 1. Halbjahr 2015 mindestens eine ICD10-Diagnose erhalten haben, berücksichtigt. Patienten mit mindestens einer Rückenschmerzdiagnose wurden als Rückenschmerzpatienten gewertet, wobei die Zuordnung zur Diagnosegruppe spezifischer oder nicht spezifischer Rückenschmerz anhand der Codierung vorgenommen wurde.

Ergebnisse In den 6696 hausärztlichen Praxen wurden im 1. Halbjahr 2015 988 925 Patienten, in den 1172 orthopädischen Praxen 302 524 Patienten und den 89 neurochirurgischen Praxen 17 043 Patienten mit Rückenschmerzen behandelt. Der prozentuale Anteil von Rückenschmerzpatienten an allen Patienten nimmt mit zunehmendem Spezialisierungsgrad der behandelnden Ärzte zu, von 34,6% bei Hausärzten, über 51,9% bei Orthopäden bis hin zu 78,6% bei Neurochirurgen. Ebenso wächst der Anteil an Rückenschmerzpatienten mit spezifischen Rückenschmerzen von 36% bei Hausärzten, über 39% bei Orthopäden bis hin zu 67% bei Neurochirurgen. Insgesamt wurden im Gesamtjahr 2015 1,2% der 1,415 Mio. AOK-Versicherten mit einer Diagnose Rückenschmerz in ein Krankenhaus eingewiesen. Die Behandlung nach stationärer Aufnahme bestand zur Hälfte in einer operativen Therapie und zur anderen Hälfte in einer konservativen. Nukleotomien, Dekompressionen und Spondylodesen waren von den wichtigsten operativen Eingriffen die 3 am häufigsten durchgeführten. Nach einer Wirbelsäulenoperation verringerten sich die Schmerzmittel- und Heilmittelverordnungen. Es gibt deutliche regionale Unterschiede bez. Einweisungs- und OP-Rate. Der Mittelwert der stationären Einweisungsrate wegen Rückenschmerz, jeweils pro 100 000 AOK-Versicherte, lag bei 535, der Median bei 536, der Höchstwert bei 808, und der niedrigste Wert bei 346. Der Mittelwert der OP-Rate unter allen eingewiesenen Rückenschmerzpatienten lag bei 49,9%, der Median bei 49,8%, der Höchstwert bei 71,8%, der niedrigste Wert bei 29,4%.

Schlussfolgerungen Die überwiegende Mehrheit der Rückenschmerzpatienten wurde ambulant behandelt. Etwa 1,2% aller Rückenschmerzpatienten wurden 2015 stationär therapiert. Hiervon wurde etwa die Hälfte operiert. Die durchgeführten Wirbelsäulenoperationen führten zu einer postoperativen Reduktion der Analgetika- und Heilmittelverordnungen im Beobachtungszeitraum. Die 3 häufigsten codierten OP-Maßnahmen waren die „knöcherne Dekompression“, „Exzision von erkranktem Bandscheibengewebe“ und „Spondylodese“. Es gab zwar deutliche regionale Unterschiede sowohl bei der Einweisungsrate von Rückenschmerzpatienten als auch bei der OP-Rate, jedoch ohne eindeutige Korrelation zu Facharztdichte oder Fachgruppe des Einweisers.



Publication History

Article published online:
16 September 2021

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