Erfahrungsheilkunde 2021; 70(03): 129
DOI: 10.1055/a-1477-0490
Editorial

Lymphe – das vernachlässigte System

Peter W. Gündling

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Leserinnen, liebe Leser,

während ein Corona-Virus und dessen immer neue Varianten noch immer die Gemüter erhitzen und in den Arztpraxen – insbesondere der vertragsärztlich tätigen – Kolleginnen und Kollegen aufgrund in Panik versetzter Patientinnen und Patienten und vor Missorganisation strotzender Behörden der Ausnahmezustand herrscht, versuchen wir mit dieser Ausgabe ganz bewusst ein scheinbar völlig anderes, vermeintlich eher unbedeutendes Thema in Erinnerung zu bringen. Eine organische Struktur, die im Gegensatz zu bösartigen Viren und deren schlimmen Folgen kaum in die Schlagzeilen der Fach- und Laienpresse gelangt.

Als ich vor einigen Wochen mit Blick auf diese Ausgabe einen Kollegen fragte, was er mit dem Lymphsystem assoziiere, antwortete er recht spontan Morbus Hodgkin und Lymphome, Lymphödeme nach Mammakarzinom, geschwollene Lymphknoten bei Halsentzündungen und Lymphangitis bei infizierten Wunden. Und als ich nachhakte und mich nach Lymphtherapeutika erkundigte, fiel ihm (neben Antibiotika und Chemotherapeutika bei den entsprechenden Grunderkrankungen) nur die Lymphdrainage ein. Doch wird all das dem Lymphsystem und seinen komplexen Aufgaben gerecht? Gewiss bei weitem nicht.

Ist das Lymphsystem nicht ein ganz wichtiger Bestandteil des Interstitiums, des sog. Pischinger-Raums und damit des Grundsystems, der Basis, die einerseits für die Funktion des Zellstoffwechsels und des Immunsystems und andererseits für die Wirkung naturheilkundlicher Maßnahmen verantwortlich ist? Ist es nicht ein zentrales Transport- und Reinigungssystem, ohne das größere Eiweißmoleküle, Zellen und Chylomikronen gar nicht weiter- und ausgeleitet werden könnten? Und spielt es nicht auch bei der Abwehr von Entzündungs- und der Regulation von immunologischen Prozessen eine ganz wesentliche Rolle?

Durch all diese Eigenschaften ist unser Lymphsystem ganz entscheidend an unserer Gesundheit, am Erkrankungsrisiko wie auch am Heilungsgeschehen beteiligt. Und doch wird es allgemein kaum beachtet. Wenn wir ehrlich sind, selbst von uns Naturheilkundlern. Wir denken an Mikrozirkulation, Zellstoffwechsel und autonomes Nervensystem, an Mikronährstoffe, Mikroorganismen und Regulation – und vergessen dabei doch so oft dieses aus- und weiterleitende und nicht zuletzt auch regulierende System.

Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, nicht nur die anatomischen Strukturen und die physiologischen Aufgaben des Lymphsystems in Erinnerung zu bringen, sondern auch dessen Rolle bei pathologischen Prozessen. Und liest man sich die Beiträge dieser Ausgabe aufmerksam durch, finden sich letztlich auch nicht wenige Beziehungen zu dem anfangs genannten, so brisanten und mittlerweile durch das Post- und Long-COVID-Syndrom aggravierten Krankheitsgeschehen.

Wenn Sie also noch nie etwas von „schwingenden Zipfeln“, „Wasserlast“ und „Lymphherzchen“ gehört haben oder sich jedenfalls nicht mehr daran erinnern können, dann lesen Sie aufmerksam die heutigen Beiträge durch und Sie werden mit Sicherheit eine Menge dazu lernen. Mir ist es jedenfalls so gegangen. Und unsere Patienten profitieren davon. – In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude bei der Lektüre.

Herzlichst Ihr
Peter W. Gündling



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Article published online:
21 June 2021

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