Z Sex Forsch 2021; 34(02): 119-121
DOI: 10.1055/a-1476-9726
Buchbesprechungen

Sexualität von Männern. Dritter deutscher Männergesundheitsbericht

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Stiftung Männergesundheit, Hrsg. Sexualität von Männern. Dritter deutscher Männergesundheitsbericht. Gießen: Psychosozial 2017 (Reihe: Forschung Psychosozial). 449 Seiten, EUR 39,90

Dieses Buch versucht, die Gesundheit von Männern im Lichte ihrer Sexualität zu analysieren. Die einzelnen Beiträge stoßen dabei immer wieder auf die Schwierigkeit, zwei sehr unterschiedliche – oft unverträgliche – Logiken zur Deckung zu bringen. Eine Reflexion über Gesundheit entgeht heutzutage selten der Erwartung, den Individuen einzuschärfen, gesund zu leben und sich der Gefahren allgegenwärtiger Krankheitsbedrohungen bewusst zu sein. Dies könnte als sanitäre Logik bezeichnet werden. Sexualität (sexuelle Fantasien wie auch sexuelle Begegnungen) ist ganz anderen psychischen Mechanismen als der präventiven Sorge um sich selbst unterworfen: einer sehr individuellen – lebensgeschichtlich bedingten – psychischen Logik des Begehrens. Das Begehren entzieht sich einer sanitären Logik, das Begehren duldet keine Eingrenzung und kein Gesundheitsräsonnement. Während heutzutage Gesundheit immer wieder mit einem Kontrollverhalten gleichbedeutend ist, ist Sexualität ganz sicher assoziiert mit Kontrollverlusten.

Eine Reihe von Autor:innen des Bandes verweisen auf die WHO-Definition von Gesundheit. Die Weltgesundheitsorganisation definierte Gesundheit schon 1946 folgendermaßen: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“ (zit. n. Voß und Bardehle, S. 79). Wer diesen emphatischen Satz ernst nimmt, muss zu dem Schluss kommen, dass über 90 Prozent der Weltbevölkerung krank sind. Die WHO-Definition sexueller Gesundheit lautete im Jahr 2006: „Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität; sie ist nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit erfordert einen positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu erleben, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt“ (zit. n. Voß und Bardehle, S. 81 f.). Bedeutet dies, dass Menschen mit „körperlichen Gebrechen“ oder psychischen Problemen keine befriedigende Sexualität haben können? Und bleibt sie zum Beispiel auch armen Menschen gänzlich verwehrt, die nicht in den Genuss von zumindest bescheidenem Wohlstand kommen? Leben diese Personen sexuell ungesund? Und wie steht es um zwanghafte Personen? Bleibt ihnen die echte sexuelle Erfüllung verwehrt? Oder ist nicht Sexualität bei zumindest sehr vielen Menschen ohne ihre sexuellen Obsessionen undenkbar?

Sicherlich handelten die Gremien der Weltgesundheitsorganisation in bester Absicht, als sie ihre Definitionen veröffentlichten. Sie formulierten ihre idyllisch anmutenden Aussagen, um patriarchaler oder anderer sexueller Ausbeutung entgegenzuwirken, und sie versuchten, mit diesen die autonomen Spielräume der Individuen zu stärken, angesichts der in den meisten Weltregionen noch herrschenden bleiernen Last religiöser und anderer kultureller Traditionen, die sexuelle Entfaltung verhindern. Deutlich zu erkennen ist ein Anknüpfen an diese Motivation in den Beiträgen des Sammelbandes „Männergesundheit“. Streckenweise lesen sie sich als implizite oder explizite Kritik an der keineswegs überwundenen Sexualfeindlichkeit in Europa, die sich mit Vorliebe auf christliche Traditionen beruft.

Nicola Döring kritisiert in ihrem lesenswerten Artikel, dass auch Ansätze in der Sexualmedizin und Sexualpädagogik, die durchaus traditionelle Sexualfeindlichkeit überwinden wollen, einen einseitig risiko- und defizitorientierten, pathogenetischen Blick auf Sexualität richten, der auch als „sexnegativ“ bezeichnet werden könne. Döring favorisiert eine „lust- und ressourcenorientierte salutogenetische Perspektive auf Sexualität“ (S. 41). Sie knüpft damit an das Konzept der Salutogenese des israelisch-amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky an. Der salutogenetische Ansatz fragt im Gegensatz zur Pathogenese nicht nach der Entstehung von Krankheiten, sondern beschäftigt sich mit den Bedingungen der Aufrechterhaltung oder dem Wiedererlangen von Gesundheit. Nach dem Salutogenese-Modell ist Gesundheit nicht als Zustand, sondern als Prozess zu verstehen. Risiko- und Schutzfaktoren stehen in Wechselwirkung. Dass gelingende Sexualität „gesund“ hält, ist eine Überzeugung, die viele Autor:innen des Bandes teilen. Mit der Einschränkung, dass eine soziologische und kulturwissenschaftliche Gesamtanalyse des sexuellen Verhaltens und Erlebens unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen noch aussteht, wagt Döring eine Trenddiagnose für Deutschland. Sie hält vier Trends für bedeutsam: „1. Liberalisierung und Individualisierung, 2. Kommerzialisierung, 3. Medikalisierung und 4. Digitalisierung“ (S. 47 f.). An die Stelle der in den 1950er-Jahren in der alten Bundesrepublik autoritär eingeforderten christlichen Sexualmoral sei gegenwärtig eine „liberale sexuelle Verhandlungsmoral“ (S. 48) getreten. Dass Sexualität immer konflikthaft bleibe, zeige sich jedoch auch darin, dass Sexualität nicht als ein „weiteres Wellness-Angebot für die allseits stressbelastete Bevölkerung“ missverstanden werden solle (S. 49). Döring hebt zudem hervor, dass die Emanzipation von religiösen Normen nicht sexualitätsdomestizierende Normen verhindere. Eine eingrenzende Sexualmoral trete gegenwärtig in Europa und Nordamerika im medizinischen oder psychiatrischen Gewand auf. Was früher als „sündig“ oder „unsittlich“ wahrgenommen wurde, werde gegenwärtig nicht selten als „ungesund“ oder „krankhaft“ definiert.

Heinz-Jürgen Voß und Doris Bardehle weisen in ihrem Kapitel zum Begriff der „sexuellen Gesundheit“ (S. 79 ff.) darauf hin, dass dem Kopenhagener Regionalbüro der WHO das Verdienst zukomme, im Jahre 2001 in einer programmatischen Stellungnahme zwischen „sexueller“ und „reproduktiver Gesundheit“ unterschieden zu haben; so wurde sexuelle Gesundheit wesentlich weiter gefasst als die Beherrschung kontrazeptiver Methoden und die Vermeidung von sexuell übertragbaren Infektionen.

Reinhard Winter diskutiert in seinem gut dokumentierten Beitrag zur sexuellen Gesundheit männlicher Jugendlicher einen in der gegenwärtigen Situation zentralen Aspekt. Zu oft werde die Sexualität männlicher Jugendlicher einseitig als problematisch dargestellt: „Die fehlende Perspektive auf das Gesunde muss als zentrale Fehlstelle in den Diskursen zur Jugendsexualität diagnostiziert werden […]. Gelingende männliche Sexualität wird unterschlagen […], während Krankheit und Störungen, auch spezifisch bezogen auf männliche Jugendliche, sexualmedizinisch gut bearbeitet sind“ (S. 128).

Günter Neubauer bemüht sich ebenfalls um eine solche „salutogene“ Perspektive in seinem Beitrag „Sexuelle Gesundheit von Jungen bis zur Pubertät“ (S. 93 ff.). Er liefert einen instruktiven Überblick über die präpubertäre sexuelle Entwicklung von Jungen und greift „Problemdiskurse zur sexuellen Gesundheit von Jungen“ am Beispiel der Vorhautbeschneidung und des sexuellen Missbrauchs auf (S. 101 ff.). Neubauer stellt die Frage, ob das Thema der Vorhautbeschneidung zur sexuellen Gesundheit gehöre (S. 101). Innerhalb einer längeren Passage konstatiert er, dass die Diskussion darüber, ob eine Beschneidung der sexuellen Gesundheit von Jungen nützlich (wie viele Befürworter:innen argumentieren) oder schädlich (so die Gegner:innen der Beschneidung) sei, keine schlüssigen Ergebnisse gezeitigt hätte.

In seinem Artikel zur Beschneidung von Jungen (S. 113 ff.) schlussfolgert Heinz-Jürgen Voß dagegen: „Mit dem Beschluss des Bundestages im Dezember 2012 wurde eine Regelung getroffen, die gleichermaßen der körperlichen Unversehrtheit und der Religionsfreiheit – die beide im deutschen Grundgesetz festgelegt sind – Rechnung trägt. Es wurde wieder Rechtssicherheit hergestellt, sodass Ärzt_innen und religiöse Beschneider_innen abgesichert handeln können und zugleich den Bedürfnissen des Kindes Rechnung getragen wird, mit Betäubung und in steriler Umgebung beschnitten zu werden“ (S. 123). Eine Kriminalisierung religiöser Praxis und die Verdrängung der Vorhautbeschneidung in die Illegalität sei so vermieden worden.

Ähnlich detailliert wie auf das Thema der Vorhautbeschneidung wird auch auf das Thema des sexuellen Missbrauchs bzw. der sexuellen Gewalt in dem Sammelband eingegangen, ein Thema, dessen Behandlung im Rahmen sexueller Gesundheit unerlässlich ist, obwohl hier der weitere Begriff der „psychosexuellen Gesundheit“ in vielen Zusammenhängen eher angebracht wäre. So diskutiert Elisabeth Tuider „Sichtweisen auf sexualisierte Gewalt und sexualisierte Grenzüberschreitungen unter Jugendlichen“ (S. 361 ff.), Torsten Kettritz befasst sich mit „Jungen und junge[n] Männer[n] mit sexuell übergriffigem Verhalten“ und hebt hervor, dass viele „Täter“ auch „Opfer“ waren (S. 375 ff.). Heino Stöver geht schließlich in differenzierter Weise auf den gesellschaftlichen Umgang mit Sexualstraftätern ein.

Der Sammelband überzeugt mit einer Vielfalt von Artikeln zu Themen, die bisher in der Sexualwissenschaft und Sexualmedizin erst in den letzten 20 Jahren größere Beachtung fanden. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang der Artikel von Arn Sauer und Annette Güldenring über „Die Gesundheitsversorgung für Trans*-Männlichkeiten“ (S. 239 ff.) sowie der von Katinka Schweizer zu „Herausforderungen der Gesundheitsversorgung bei Intergeschlechtlichen“ (S. 253 ff.), ebenso der Beitrag von Farid Hashemi et al. zu „Migration, Flucht und sexuelle[r] Gesundheit von Männern“ (S. 211 ff.) und der von Udo Sierck zur „Sexualität von behinderten Männern“ (S. 167 ff.). Weitere Artikel, u. a. zur Sexualität schwuler Männer, zur Sexualität von Männern im mittleren Lebensalter und im Alter sowie der Sexualität von Männern, die BDSM-Variationen bevorzugen, ergänzen das breite Spektrum des Bandes. Artikel zu medizinischen oder psychologischen Aspekten wie erektilen Dysfunktionen und sexuellen Störungen bei psychischen Erkrankungen fanden ebenfalls Eingang in die Publikation. Sie wendet sich an ein breites Publikum, den Herausgebenden ist es gelungen, die einzelnen Verfasser:innen zu einer zumeist allgemeinverständlichen Ausdrucksweise in ihren resümierenden Berichten zum State of the Art zu bewegen. Wo es einzelnen Autor:innen nicht gelungen ist, einen medikalisierenden oder pädagogisierenden Blick zu vermeiden, mögen die einzelnen Leser:innen selbst urteilen.

Michael Bochow (Berlin)



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
09. Juni 2021

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