Z Sex Forsch 2021; 34(02): 115-117
DOI: 10.1055/a-1476-9145
Nachruf

David Morris Schnarch (18. September 1946 – 8. Oktober 2020)

Fritjof von Franqué
Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
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David Morris Schnarch war ein US-amerikanischer Psychologe und Sexualtherapeut, der im Jahre 1946 in der Bronx in New York geboren wurde und im Jahre 2020 in Evergreen, Colorado, verstarb. Als Professor war er zunächst ein Jahr an der Indiana State University tätig, bevor er dann für weitere 17 Jahre an der Louisiana State University Medical School lehrte und dort zuletzt als assoziierter Professor der Abteilung für Psychiatrie und Urologie arbeitete. Im Jahre 1995 gründete er mit seiner Frau Ruth Morehouse das Marriage and Family Health Center in Evergreen, Colorado, dessen Direktor und Co-Direktor er war. Dort behandelte er bis zuletzt in unterschiedlichen Settings vor allem Paare und Individuen mit sexuellen Problemen und später auch mit interpersonellem Trauma, die aus der näheren Umgebung, aber auch aus aller Welt stammten. David M. Schnarch war die erste Person, die im Jahre 1997 mit dem Professional Standard of Excellence Award der American Association for Marriage and Family Therapy ausgezeichnet wurde. Im Jahre 2011 wurde er von derselben Organisation für seine herausragenden Leistungen für Familien und Ehen geehrt. Im Jahre 2012 folgte die Zertifizierung in Paar- und Familientherapie durch das American Board of Professional Psychologists, die nur durch den Abschluss eines kompetenzüberprüfenden Verfahrens erreicht werden kann und die bislang nur 200 Personen in den USA erlangten. Schließlich verlieh ihm im Jahre 2013 die American Psychological Association (APA) einen Preis für seinen herausragenden professionellen Beitrag als klinischer Psychologe und Psychotherapeut ([Crucible Institute 2020]). Der vorliegende Nachruf möchte David M. Schnarchs Lebenswerk würdigen und es dabei auch inhaltlich etwas ausführlicher vorstellen.

Der Öffentlichkeit und Fachwelt war Schnarch bekannt als Entwickler eigener psychotherapeutischer Ansätze. Er formulierte sie aus seiner Kritik an den klassischen Konzepten der Sexualtherapie heraus ([Schnarch 1991]) und später aufgrund seiner Analyse der von ihm durchgeführten misslungenen Behandlungen sowie der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Befunden zur interpersonellen Neurobiologie ([Schnarch 2018]). Hieran anknüpfend bemühte sich Schnarch als Dozent und Lehrer rund um die Welt um die Weiterbildung von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Unter anderem führte er persönlich zweimal jährlich Veranstaltungen in Deutschland durch, die simultan übersetzt wurden. Hinzu kamen monatliche Webinare, die die Möglichkeit zur Supervision von Fällen nach seinen Ansätzen gaben und auch schon in dieser Zeitschrift vorgestellt wurden ([Döring 2018]: 301 f.). Auch für interessierte und betroffene Menschen hielt Schnarch Vorträge und bot Selbsterfahrungskurse an. Zusätzlich erreichte Schnarch die Öffentlichkeit über die Veröffentlichung von Büchern, die sich gleichermaßen an ein Fachpublikum richteten.

Schnarchs Gesamtwerk lässt sich sehr vereinfacht in zwei therapeutische Ansätze einteilen: die Crucible Therapy (CT; [Schnarch 1991]) und die Crucible Interpersonal Neurobiology Therapy (CNT; [Schnarch 2018]). In beiden therapeutischen Ansätzen versuchte Schnarch, verschiedene klinische Phänomene mit jeweils einem zentralen Konstrukt in Verbindung zu bringen, was ihn nach [Hartmann (2011]: 12) als „Sexualtherapeut der zweiten Generation“ kennzeichne, dem „ohne Zweifel das Verdienst [gebühre], der etwas eingeschlafenen Theorie und Praxis der Sexualtherapie in den 1990er-Jahren einen Weckruf erteilt zu haben“. Die Ansätze sind auf die Behandlung unterschiedlicher klinischer Probleme abgestimmt, wobei Schnarch selbst das Potenzial seiner Ideen für ein erfüllendes (Sexual-)Leben jenseits von Störungen betonte.

Schnarch hat sich um eine Vielzahl klinischer Phänomene und deren Behandlung bemüht. Diese reichen von mangelndem sexuellem Verlangen ([Schnarch 2009]) über die sexuellen Funktionsstörungen über besondere Paarprobleme ([Schnarch 1997]) bis hin zur Verarbeitung von sexueller Gewalt, weiteren interpersonellen Traumata und hieraus resultierenden Folgen ([Schnarch 2018]). Marginal hat sich Schnarch auch mit der sogenannten sexuellen Sucht ([Schnarch 1991]) und mit paraphilen Interessen ([Schnarch 2002], [2018]) beschäftigt. Schließlich käme Schnarchs Gesamtwerk auch für die Behandlung von Menschen mit Sexualdelinquenz infrage, da für die zentralen Problembereiche – Beziehungsprobleme, kriminogene Einstellungen, Schwierigkeiten mit der Selbstregulation sowie sexuelle Probleme – mindestens in Teilen ein theoretisches Verständnis und praktische Behandlungsmöglichkeiten vorhanden sind.

Für die CT ist die Differenzierung dabei zentral. Hierunter verstand Schnarch Bezug nehmend auf die Theorie von Murray Bowen ([Kerr und Bowen 1988]) die Entwicklung eines bezogenen Selbst, das sich aus dem ständigen Ringen um ein Gleichgewicht zwischen den Bedürfnissen nach emotionaler Verbindung mit anderen Menschen und Autonomie fortlaufend entwickelt. Verschiedene Probleme ergeben sich der Theorie nach daraus, dass Menschen diesen inneren Konflikt durch die Kontrolle ihrer Umwelt zu lösen versuchen, anstatt sich selbst mit ihrem Dilemma zu konfrontieren. Hierdurch erreichen Menschen häufig einen toten Punkt, an dem der Einfluss auf die Umwelt versagt, die Selbstkonfrontation jedoch ebenfalls vermieden wird, was zu einer emotionalen Pattsituation führt. Das Ziel der CT besteht darin, den Differenzierungsgrad von Personen zu erhöhen, damit sie durch Selbstkonfrontation und das Festhalten an der eigenen Person anstelle der versuchten Kontrolle über andere Personen emotionale Pattsituationen und die damit verbundenen klinischen Probleme überwinden können ([Schnarch 1991], [1997]).

Demgegenüber bezieht sich die CNT als zentrales Konstrukt auf das Mindmapping, worunter Schnarch die Fähigkeit eines Menschen verstand, sich eine mentale Landkarte von der Innenwelt eines anderen Menschen zu verschaffen. Dabei bezog sich Schnarch auf Befunde zur Theory of Mind, bevorzugte aber aufgrund seiner Interpretation dieser Befunde den Begriff Mindmapping. Das Anwenden dieser Fähigkeit sei jedoch nicht ausschließlich prosozial motiviert, womit sich Schnarch von anderen Formen der Psychotherapie mit Bezug zur Theory of Mind abgrenzte. Stattdessen ließen sich prosoziale wie antisoziale zwischenmenschliche Interaktionen identifizieren, in denen die Fähigkeit zum Mindmapping zur Anwendung komme. Schnarch nutzte den Begriff antisoziale Empathie und kennzeichnete damit Interaktionen, in denen mit Hilfe von Mindmapping Leid bei einer anderen Person erzeugt wird. Traumatisches Mindmapping lässt sich korrespondierend hierzu als ein Prozess verstehen, bei der eine Person sich eine mentale Landkarte der inneren Welt eines Mitmenschen gemacht hat und dabei deren Inhalt als so schrecklich und aufwühlend erlebt, dass die eigene Fähigkeit zum Mindmapping kollabiert. Diese Erfahrung, insbesondere wenn sie sich in Interaktionen wiederholt, kann zu verschiedenen Problemen führen, mit denen sich Schnarch in seiner klinischen Praxis konfrontiert sah und die sich in großen Teilen nicht in gängige Klassifikationssysteme psychischer Erkrankungen einsortieren ließen. Entsprechend zielt die CNT drauf ab, traumatisches Mindmapping und die hiermit einhergehenden Probleme aufzulösen ([Schnarch 2018]).

Schnarchs Wirken war nicht unumstritten. Die kritischen Stimmen beziehen sich aufgrund des noch jungen Alters der CNT ausschließlich auf die CT (vgl. [Apfelbaum 2006]; [Eberwein 2015]; [Hartmann 2011]; [Maß und Bauer 2016]): So wurde beispielsweise kritisiert, dass die CT und die ihr zugrunde liegende Theorie eher einer Ideologie als einem psychologischen Erklärungsansatz folge ([Apfelbaum 2006]; [Hartmann 2011]; [Maß und Bauer 2016]). Sie erzeuge einen normativen Druck ([Apfelbaum 2001]) und laufe Gefahr, Überforderung zu provozieren. So werde nach der Auffassung von [Maß und Bauer (2016]: 85) Sex im Werk von Schnarch „als Weg zur Erlösung geradezu mystifiziert“. Es werde ein „Universalmodell“ ([Hartmann 2011]: 17) postuliert, das eine Vielzahl von klinischen Problemen erkläre. Dieser Universalitätsanspruch lasse sich empirisch nicht begründen und sei daher im Hinblick auf die Psychotherapieforschung kritisch zu sehen. Nach [Maß und Bauer (2016)] sowie [Hartmann (2011)] liege bislang keine empirische Evidenz vor, die über die Einzelfalldarstellungen von Schnarch selbst hinausreichten. Interventionen, die in publizierten Falldarstellungen dokumentiert wurden, empfand beispielsweise [Apfelbaum (2006)] als invasiv und unempathisch, da Schnarchs Konfrontationen das Risiko der Beschämung von Betroffenen beinhalte und dies nicht reflektiert werde. Ebenso fand [Eberwein (2015)], dass Schnarch während einer Falldemonstration entgegen seiner eigenen Empfehlung eher einseitig und Männer eher härter als Frauen konfrontiert habe. Außerdem warfen [Maß und Bauer (2016]: 85) aufgrund der Berufe der behandelten Paare in den publizierten Kasuistiken die Frage auf, ob CT vorwiegend für die Behandlung gehobener Gesellschaftsschichten angewendet werde. Sie kritisierten schließlich, dass die von Schnarch formulierten Anforderungen für die Durchführung einer CT ([Maß und Bauer 2016]: 82) derart hoch seien, dass es möglicherweise deshalb „außerhalb des Instituts von David Schnarch offenbar keine Crucible-Therapeuten gibt“.

Es ist nicht bekannt, wie Schnarch selbst über die ihm entgegengebrachte Kritik dachte. Sein Engagement in der Weiterbildung belegt allerdings, wie sehr er um die Wahrung der Behandlungsintegrität besorgt war. Aus diesem Grunde grenzte er wahrscheinlich die Möglichkeit, eine CT zu erhalten, auf das Marriage und Family Health Center ein (z. B. [Schnarch 1997]), strebte aber in den letzten Jahren eine besondere Form der kompetenzbasierten Zertifizierung an, von der nach jetzigem Kenntnisstand noch keine Psychotherapeutin und noch kein Psychotherapeut Gebrauch machte.

Davon abgesehen hat David M. Schnarch es wahrscheinlich auch nicht darauf angelegt, unumstritten zu sein. In Diskussionen stellte er sich kritischen Nachfragen und konnte auch die Spannung ertragen, wenn seine Ausführungen andere Menschen nicht überzeugten. Sein Vorgehen demonstrierte er öffentlich und machte sich so der oben genannten Kritik an seinem therapeutischen Vorgehen überhaupt erst zugänglich. Durch dieses Handeln setzte er an der eigenen Person immer wieder den in seinen Ansätzen zu findenden Anspruch um, sich beängstigenden Situationen für ein eigenes Wachstum zu stellen, anstatt diese zu vermeiden. Auch die in seinem letzten Werk zu findenden und auf Seminaren präsentierten Falldarstellungen scheinen zu belegen, dass sich Schnarch wiederholt in seiner Rolle als Therapeut belastenden Inhalten mit dem Glauben zuwandte, dass am Ende hierdurch etwas Gutes hervorgebracht werden könne.

Die Sexualtherapie verliert als Disziplin mit dem Tod von David M. Schnarch einen ihrer wichtigsten Vertreter, der gleichzeitig auch einer ihrer bedeutendsten Kritiker war. Für die Gemeinde der Sexualtherapeutinnen und Sexualtherapeuten, die CT und CNT erlernen wollen, geht mit seinem Tod indes der Verlust eines schwer ersetzbaren Mentors, Vorbilds und manchmal auch persönlichen Wegbegleiters und Freundes einher.



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Article published online:
09 June 2021

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