Klinische Neurophysiologie 2021; 52(02): 108-111
DOI: 10.1055/a-1467-0301
In der Praxis

F-Wellen im Praxisalltag

Kai M. Rösler
1   Neurozentrum Basel, Schweiz
,
Walter Raffauf
2   Neurologie am Hackeschen Markt, Berlin
› Author Affiliations

Einleitung

F-Wellen sind mit wenig Aufwand abzuleiten und können die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit in wertvoller Art ergänzen. Trotzdem werden sie oft vernachlässigt und fehlen in vielen elektrophysiologischen Befunden ganz. „F“ steht dabei übrigens für „following“ oder auch für „foot“, weil sie erstmalig über Fußmuskeln abgeleitet wurden. In diesem Artikel werden wir versuchen, die Nützlichkeit der F-Wellen bei der neurophysiologischen Untersuchung hervorzuheben und einige typische Befunde darzulegen. Ziel ist es dabei, den Blick des elektrophysiologisch Tätigen für die diagnostische Aussagekraft der F-Welle zu schärfen und einige typische Befundkonstellationen zu schildern, die über die blosse Latenzzeitmessung herausgehen.

Physiologie und Pathophysiologie der F-Wellen

F-Wellen sind ein Phänomen, welches sich nur auf motorischen Nervenfasern abspielt. Sie entstehen durch die antidrome Erregung der Motoneurone nach einem elektrischen Reiz. Sobald diese aufsteigenden Aktionspotentiale das Soma des Motoneurons erreicht haben, kann es zu einer Erregungsumkehr kommen („Spiegelung“ des Aktionspotentials), welche dann nach distal propagiert und als F-Welle aufgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass eines der antidrom erregten Motoneurone eine F-Welle generiert, sodass F-Wellen nur wenige (oft nur 1 oder 2) Motoneurone umfassen. Weil immer wieder andere Motoneurone betroffen sind, ändert sich die Morphologie bzw. die Latenz und Amplitude der abgeleiteten F-Wellen von Stimulus zu Stimulus ([Abb. 1c]) .

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Abb. 1 Erläuterungen s. Text.

F-Wellen werden meistens mit Oberflächenelektroden abgeleitet. Typische Ableitmuskeln sind am Fuss der M. abductor hallucis und der M. extensor digitorum brevis pedis, an der Hand die Mm. abductor pollicis brevis und abductor digiti minimi. Andere Hand- und Fussmuskeln sind ebenfalls geeignet; und auch in proximaleren Muskeln zeigen sich bei geeigneter Stimulation F-Wellen, z.B. im M. anconaeus bei Stimulation des N. radialis etwas oberhalb des Ellenbogens. Die Ableitmontage ist jeweils die gleiche wie für die motorische Neurographie der entsprechenden Nerven. Die Aufzeichnung der F-Wellen bedeutet für den Untersucher und den Untersuchten deshalb meist kaum viel zusätzlichen Aufwand. Zur Vermeidung eines Anoden-Blocks sollte die Stimulationselektrode bei der Stimulation umgedreht werden, sodass die Kathode proximal liegt. Die Stimulationsintensität ist i.d.R. supramaximal. Wegen ihrer Variabilität sollte eine Serie von mindestens 10 F-Wellen aufgenommen werden.

Verschiedene Messparameter können bei einer F-Wellen-Untersuchung berücksichtigt werden ([Tab. 1]). Die Latenz der schnellsten F-Welle Fmin ist ein Mass für die Leitgeschwindigkeit der am schnellsten leitenden Neurone des Nerven. Bei Stimulation des Nerven am Handgelenk ist die normale minimale F-Latenz für die Nn. medianus und ulnaris zwischen 25 und 32 ms (Normwerte siehe [Tab. 2]). Es kann aber auch die langsamste F-Latenz Fmax gemessen werden, als Leitzeit der am langsamsten leitenden Neurone. Die Differenz zwischen Fmax und Fmin wird als F-Dispersion bezeichnet und gibt einen Hinweis auf die unterschiedlichen Leitgeschwindigkeiten der Neurone des untersuchten Nerven. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass F-Wellen von der gesamte Motoneuronpopulation eines Nerven generiert werden können, wobei wahrscheinlich grosskalibrige Motoneurone etwas bevorzugt werden. Es kann sinnvoll sein, die F-Latenz in die F-Geschwindigkeit umzurechnen. Diese berechnet sich nach der Formel: v = Distanz / (F-Latenz – M-Latenz – 1)/2. Viele der heute gebräuchlichen ENMG-Geräte können diese Berechnung vornehmen. Die F-Geschwindigkeit ist etwa 3–8 m/s schneller als die am Vorderarm gemessene motorische Leitgeschwindigkeit, aufgrund der etwas grösseren Faserkaliber und der höheren Umgebungstemperatur proximal. Rechnet man die Geschwindigkeiten von Fmin und Fmax separat aus, so erhält man eine einfache quantitative Einschätzung des Spektrums der motorischen Leitgeschwindigkeiten eines Nerven.

Tab. 1 Wichtigste Messgrössen bei einer F-Wellen-Untersuchung und deren Signifikanz.

Messparameter

Abhängig von / Funktion von

Pathologische Signifikanz

Kürzeste F-Latenz (Fmin)

  • Leitgeschwindigkeit der schnellsten motorischen Neurone des Nerven

  • Verlängert bei demyelinisierenden Neuropathien

  • Verlängert bei Verlust schnell leitender Neurone (z.B. bei Motoneuronkrankheiten)

Längste F-Latenz (Fmax)

  • Leitgeschwindigkeit der langsamsten motorischen Neurone des Nerven

Mittlere F-Latenz ((Fmax + Fmin)/2)

  • Mittlere Leitgeschwindigkeit des untersuchten Nerven (variiert weniger als Fmin)

F-Chronodispersion (Fmax – Fmin)

  • Spektrum der Leitgeschwindigkeiten der schnellsten vs. der am langsamsten leitenden Neurone

  • Vergrössert bei demyelinisierenden Neuropathien

Mittlere F-Amplitude Amplituden-Quotient F/M

  • Zahl der F-generierenden Neurone

  • Grösse der motorischen Einheiten

  • Erhöht bei Pyramidenbahnläsionen

  • Erhöht bei chronisch neurogenem Umbau

F-Persistenz

  • Wahrscheinlichkeit, mit der die Motoneurone eine F-Welle generieren

  • Zahl der Motoneurone

  • Erregbarkeit der Motoneurone

  • Vermindert bei proximalen Nervenläsionen (insbesondere proximalen Leitungsblocks)

  • Vermindert bei reduzierter Zahl motorischer Einheiten

  • Ggf. erhöht bei Pyramidenbahnläsionen

Repeater F-Welle

  • Verminderte Zahl motorischer Einheiten

  • Nach neurogenem Umbau

Tab. 2 Normwerte verschiedener F-Wellen-Parameter (Erfahrungswerte, basierend auf verschiedenen Referenzen).

N. medianus, N. ulnaris

N. tibialis, N. peronaeus

Kürzeste F-Latenz:

Reiz am Handgelenk: < 32 msSeitenunterschied <2 ms

Reiz am Fussgelenk: <60ms
Seitenunterschied < 4 ms

F-Geschwindigkeit

>52 m/s

>50 m/s

F-Persistenz

>50%

N. tibialis: >50%; N. peronaeus: Seitenvergleich

F-Dispersion

<6 ms

<9 ms

Die Amplitude der F-Welle wird im Allgemeinen nicht ausgemessen und gewertet. Doch auch die Einschätzung der Amplituden von F-Wellen kann einen Aussagewert haben. Sind die F-Amplituden hoch, so kann dies ein Hinweis darauf sein, dass die motorischen Einheiten des Ableitmuskels groß sind, z.B. nach einem neurogenen Umbau. Erhöhte F-Amplituden können auch eine Folge erhöhter motoneuronaler Erregbarkeit sein, z.B. bei Pyramidenbahnläsionen. Zeigt sich bei wiederholten Stimulationen immer die gleiche große F-Welle (eine sog. „Repeater“-F-Welle), so deutet dies darauf hin, dass der abgeleitete Muskel nur noch wenige motorische Einheiten besitzt, z.B. als Folge eines Denervationsprozesses. Sehr typisch ist diese Konstellation bei Motoneuron-Krankheiten. Die F-Welle erlaubt damit sehr einfach einen raschen Einblick in die Architektur der motorischen Einheiten eines Muskels, welche der motorischen Neurographie entgehen würden. Damit kann die F-Welle dazu dienen, die weitere elektrophysiologische Untersuchung eines Patienten zu leiten (z.B. eine quantitative Myografie anzuschließen).

Eine weitere Messgröße ist die Persistenz der F-Welle, welche zwischen 0 und 100% liegen kann. Die minimale F-Persistenz ist 0%, dh. es wird keine F-Welle gesehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein gegebenes Motoneuron eine F-Welle generiert, hängt von seiner Erregbarkeit ab. Letztere kann im Rahmen einer Krankheit verändert sein (z.B. ist sie bei zentralen Paresen erhöht), sie kann aber auch beim Gesunden variieren und beeinflusst werden. Der Jendrassik’sche Handgriff ist z.B. dazu geeignet, die F-Wellen zu fazilitieren. Ein Fehlen von F-Wellen kann aber auch auf einen proximalen Leitungsblock hindeuten, insbesondere, wenn gleichzeitig die Amplitude der M-Antwort normal ist. Ein Fehlen von F-Wellen ist in den kleinen Handmuskeln und im M. abductor hallucis praktisch immer pathologisch. Im M. extensor digitorum brevis pedis kann die F-Welle auch beim Gesunden zuweilen fehlen. Bestehen Unsicherheiten, ob eine gerade beobachtete niedrige F-Persistenz einen Krankheitswert hat, so ist es sinnvoll, die Gegenseite zu untersuchen.


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F-Wellen-Pathologie bei verschiedenen Krankheiten

Bei vielen peripheren Neuropathien und Polyneuropathien ist die Latenz der F-Wellen verlängert und diese Verlängerung kann auch dann auftreten, wenn die distal gemessene Nervenleitgeschwindigkeiten noch normal sind. Besondere Bedeutung hat die F-Wellen-Analyse bei demyelinisierenden Neuropathien und insbesondere beim Guillain-Barré Syndrom und bei den chronischen inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathien (CIDP). Der Verlust von F-Wellen bei gleichzeitig erhaltender M-Antwort gilt dabei als die früheste pathologische Veränderung beim Guillain-Barré Syndrom. Sie weist dort auf die proximale Leitungsblockierung hin, welche zur Pathophysiologie der Polyradikulitis gehört [1] [2]. Fehlende F-Wellen zeigen sich aber auch bei der CIDP, wo sie ebenfalls geeignet sind proximale Leitungsblocks zu entdecken. Es sei in Erinnerung gerufen, dass viele Formen der CIDP keine längenabhängige Symptome verursachen, sondern dass die Pathologie oft proximal lokalisiert ist, wo sie mit einer konventionellen Neurographie nicht erreichbar ist. Pathologische F-Wellen bilden deshalb eines der Kriterien zur Diagnosesicherung einer CIDP („absence of F-waves in two nerves if these nerves have distal negative peak CMAP amplitudes ≥20% of lower limit of norm, plus ≥1 other demyelinating parameter in ≥1 other nerve“) [3]. Andere starke Hinweise auf eine demyelinisierende Neuropathie sind die Verlängerung der F-Latenz und eine erhöhte Chronodispersion der F-Wellen [4].

Bei axonalen Polyneuropathien kommt es häufig zu Repeater-F-Wellen und zur erhöhten Amplitude der F-Wellen. Diese beruhen auf dem neurogenen Umbau des Ableitmuskels, welche zu einer verminderten Zahl motorischer Einheiten führt, die aber größer als normal sind. Beide Parameter deuten auf eine gewisse Chronizität der bestehenden Krankheit hin. Gegebenenfalls kann eine Nadelmyographie dazu dienen, den neurogenen Umbau des Muskels genauer zu untersuchen.

Eine F-Diagnostik kann auch bei kompressiven Wurzelaffektionen versucht werden, wenngleich die Sensitivität der F-Wellen in der Erfahrung der Autoren eher gering ist. Immerhin wird mit der F-Welle die proximale Reizleitung bis hin zur Wurzel miterfasst. Theoretisch kann damit eine Leitungsstörung durch eine Wurzelkompression zu den gleichen Veränderungen wie bei einer Polyradikulitis führen. Dass dies oft nicht so ist, hat wahrscheinlich verschiedene Gründe. Einer davon ist, dass die meisten Muskeln polyradikulär innerviert sind (durch unterschiedlichen Befall verschiedener Wurzeln kann allerdings die F-Chronodispersion erkennbar zunehmen). Wichtigster Grund ist aber wahrscheinlich, dass kompressive Radikulopathien in der Regel sehr schmerzhaft sind, sodass die Patienten ärztliche Hilfe aufsuchen, bevor es zu einer nennenswerten Leitungsstörung kommt, und dass in dieser Situation eine Bildgebung meist die erste Untersuchung der Wahl ist. Sollte bei einer chronifizierten kompressiven Radikulopathie eine F-Wellen-Untersuchung durchgeführt werden, so lohnt es sich meist, seitenvergleichend zu untersuchen. Für die Wurzel C8 ist die Medianus- und Ulnaris-F-Welle mit Ableitung aus kleinen Handmuskeln sinnvoll, für die Wurzel C7 kann die F-Welle des M. anconaeus mit Reizung des N. radialis verwendet werden, für die Wurzel C6 die Ableitung aus dem M. pronator teres mit Reizung des N. medianus. An den unteren Extremitäten kann die Wurzel L5 mit einer Ableitung des N. tibialis anterior und Reizung des N. peronaeus untersucht werden. Für die Wurzel S1 ist die Ableitung eines H-Reflexes vom M. soleus der F-Wellen-Untersuchung vorzuziehen.

Subtile F-Wellen-Anomalien können auf eine beginnende Motoneuron-Krankheit hinweisen. Bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) kommt es zu einer Abnahme der motorischen Einheiten, gleichzeitig vergrößern sich die verbleibenden Einheiten. Es kann deshalb zu einer erhöhten Amplitude der F-Wellen kommen, zudem nimmt die Variabilität der F-Wellen ab und schließlich zeigen sich „Repeater“-F-Wellen. In der Regel sind diese Veränderungen bei peripheren Neuropathien nicht so deutlich ausgeprägt wie bei einer ALS. Insbesondere dann, wenn der Patient nicht über neuropathische Schmerzen klagt, ist eine genauere Abklärung sinnvoll. Ein Beispiel eines solchen Patienten ist in [Abb. 1]) gegeben. Dieser Patient klagte über eine schmerzlos eingetretene Schwäche seiner rechten Hand. Die Ulnaris-Neurografie war normal. Bei der F-Wellen-Analyse zeigten sich mehrere eher hochamplitudige „Repeater“-F-Wellen. Die weitere Abklärung zeigte, dass hier eine ALS im Anfangsstadium vorlag. Die veränderten F-Wellen waren in diesem Fall also ein frühes Zeichen einer Vorderhornkrankheit.


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Publication History

Article published online:
27 May 2021

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  • Literatur

  • 1 Kimura J, Butzer JF. F-wave conduction velocity in Guillain-Barre syndrome. Assessment of nerve segment between axilla and spinal cord. Arch Neurol 1975; 32: 524-529
  • 2 Ropper AH, Wijdicks EF, Shahani BT. Electrodiagnostic abnormalities in 113 consecutive patients with Guillain-Barré syndrome. Arch Neurol 1990; 47: 881-887
  • 3 Van den Bergh PYK. et al. European Federation of Neurological Societies/Peripheral Nerve Society Guideline on management of chronic inflammatory demyelinating polyradiculoneuropathy: Report of a joint task force of the European Federation of Neurological Societies and the Peripheral Nerve Society — First Revision. Eur J Neurology 2010; 17: 356-363
  • 4 Toyokura M. F-wave duration in diabetic polyneuropathy. Muscle Nerve 1998; 21: 246-249
  • 5 Stashuk DW, Doherty TJ, Kassam A, Brown WF. Motor unit number estimates based on the automated analysis of F-responses. Muscle Nerve 1994; 17: 881-890