Fortschr Neurol Psychiatr 2021; 89(05): 209-210
DOI: 10.1055/a-1398-8460
Editorial

Gleichgewichts- und Gangstörungen

Disorders of Balance, Stance and Gait
Marianne Dieterich

Schwindel ist wie Kopfschmerz keine Krankheitsentität sondern ein häufiges Leitsymptom nicht nur in der Notaufnahme einer Klinik (mit 5 %) sondern auch in der Praxis bei den KollegInnen für Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Neurologie und Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Die Lebenszeitprävalenz beträgt bis zu 30 %. Dieses Leitsymptom ist häufig Teil eines Syndroms, d. h. es ist kombiniert mit Augenbewegungsstörungen, vegetativen Symptomen wie Übelkeit und Erbrechen und vor allem Gleichgewichts-, Stand- und Gangstörungen. Aus der langjährigen Erfahrung im Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) der LMU München mit über 5000 ambulanten Patienten jährlich haben wir gelernt, dass neben dem Leitsymptom Schwindel die Stand- und Gangstörungen – auch ohne Schwindel – das zweithäufigste Symptom darstellen.

Dies soll der Fokus des aktuellen Themenheftes „Gleichgewichts- und Gangstörungen“ sein mit vier Beiträgen, zwei schwerpunktmässig zu häufigen vestibulären Schwindelsyndromen (Zwergal, Dieterich) und zu selteneren, aber wichtigen – weil therapierbaren – Schwindelformen (Becker-Bense, Huppert). Die beiden anderen Beiträge zu neurologischen Gangstörungen befassen sich mit den aktuellen, auch apparativen diagnostischen Möglichkeiten (Wühr, Jooshani, Schniepp) sowie den symptomatischen Behandlungsoptionen (Schniepp, Möhwald, Wühr).

Traditionell werden Gangstörungen in der Neurologie oft den Bewegungsstörungen (Movement Disorders) zugeordnet. Dies ist für Krankheiten wie Parkinsonsyndrome und Dystonien sicher berechtigt. Für andere Gleichgewichts-, Stand- und Gangstörungen wie die zerebelläre Ataxie oder die Differentialdiagnose einer progressiven supranukleären Blickparese (PSP) von einem Normaldruckhydrozephalus sowie funktionellen (psychosomatischen) Erkrankungen ist die interdisziplinäre Expertise eines Zentrums für Schwindel und Gleichgewichtsstörungen von Vorteil. Zu einem solchen Zentrum gehören verschiedene diagnostische Möglichkeiten, die weit über die Ganganalyse hinausgehen, wie eine orthoptische Untersuchung zur Erfassung von okulomotorischen und vestibulären Störungen mit Bestimmung der Subjektiven Visuellen Vertikalen und Augenpositionsmessung, Videookulographie beim Kopfimpuls-Test und der kalorischen Prüfung, Posturographie zur Differenzierung der Muster bei Standschwankungen, zervikale und okuläre vestibulär evozierte myogene Potentiale (cVEMPs, oVEMPs), Audiographie und bei Bedarf diverse neuropsychologische Tests und Fragebögen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit bezieht sich nicht nur auf die klinische Routine sondern auch auf die Kooperation mit tierexperimentellen und bildgebenden Grundlagenwissenschaftlern – Biologen, Ingenieuren, Physikern und Informatikern – sowie eine epidemiologische Expertise. Auch ein Zentrum für klinische Studien sollte angegliedert sein; nur so können neue Erkenntnisse rasch translational in Diagnostik und Therapie umgesetzt werden.

Mit diesem Themenheft verfolgen wir drei Ziele. Zum einen möchten wir die Bedeutung von Gleichgewichts- und Gangstörungen als wichtiges Leitsymptom eines Schwindelzentrums darstellen, zum anderen auf die notwendige interdisziplinäre medizinische und technische Struktur hinweisen, die nicht nur verschiedene medizinische Fachdisziplinen sondern auch Grundlagenforscher einbindet. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren von den Fachgesellschaften und der Internationalen Gesellschaft für Neurootologie, der Bárány-Society, Leitlinien für die Diagnostik und Behandlung sowie internationale Konsensus- Definitionen erstellt (kostenloser Download: http://www.jvr-web.org/ICVD.html). Damit ist die Diagnose der verschiedenen vestibulären Erkrankungen durch die klinisch orientierten und weltweit akzeptierten Diagnosekriterien der Bárány-Society vereinheitlicht und für den Kliniker vereinfacht worden. Das hat in den letzten Jahren zu mehr Klarheit bei der Zuordnung zu Diagnosen geführt, was nun einen Vergleich von Studien ermöglicht und wichtig ist für die Auswahl einer adäquaten Therapie. Denn nach wie vor gilt: Den Leitsymptomen Schwindel, Gleichgewichts- und Gangstörungen können verschiedene multisensorische und sensomotorische Syndrome unterschiedlicher Pathophysiologie und Ätiologie zugrunde liegen, die möglichst spezifisch behandelt werden sollten.



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Article published online:
18 May 2021

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