Nervenheilkunde 2021; 40(06): 400-405
DOI: 10.1055/a-1389-6521
Editorial

Evolution, Kultur und Natur

Manfred Spitzer

Bis vor gut einem halben Jahrhundert waren Natur und Kultur fein säuberlich sortiert: Für das eine waren die Naturwissenschaften zuständig und für das andere die Geistes- oder Kulturwissenschaften. Zwischen beiden gab es eine „friedliche Koexistenz“, solange es nicht ums Geld ging. Der wissenschaftliche Alltag war von wechselseitiger Ignoranz und Geringschätzung geprägt. Lediglich in Sonntagsreden wurde zuweilen die lange gemeinsame Geschichte betont. Wenn es dann doch gelegentlich ums Geld ging, dann hatten die Geisteswissenschaften immer schon verloren – fast im philosophischen, prinzipiell gemeinten Sinn des „immer schon“. Ein neues Gebäude für die Molekularbiologie oder ein ganzer neuer Campus für die Naturwissenschaften? – „Kein Problem“. Renovierung irgendeines uralten Gebäudes für die Sprachwissenschaften? – „Kein Geld“. Dabei gehörten die in den 1970er-Jahren zunächst sehr zaghaft aufkommenden Berührungen zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften zum Spannendsten, was ich während meiner Studienzeit erlebt habe. Wir Menschen gehören nun einmal auch zur Natur und unsere Kultur damit ebenfalls. Diese ist hierdurch jedoch keineswegs vollständig determiniert, sondern kann vielmehr auch unabhängig von Natur eine Eigendynamik entwickeln, die anderen Gesetzen folgt als den Naturgesetzen. Entsprechend haben Studien gefunden, dass geschichtliche Zufälle Ursache kultureller Unterschiede sein können [14], [15]. Allein die Natur reicht nicht aus, um die historisch gewachsenen Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen zu erklären.

Dennoch ist gerade das komplexe Wechselspiel von Natur und Kultur interessant, vor allem, wenn es um die Einordnung dessen, was ist, was sein soll und überhaupt sein kann und unsere Existenz (Ontologie, Ethik, Metaphysik) und unser Erkenntnisvermögen (Erkenntnistheorie) geht. Anhand der Beispiele von Farben [24] und Emotionen [11] konnte gezeigt werden, dass man globale Unterschiede in der sprachlichen Sortierung der Phänomene weder allein mit Sprache und Kultur noch allein mit Physiologie und Physik erklären kann. Anhand zweier Studien sei in der Folge dargelegt, dass das Zusammenspiel von Natur und Kultur nie spannender diskutiert wurde als in der Gegenwart.



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Article published online:
02 June 2021

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