Zeitschrift für Palliativmedizin 2021; 22(04): 173-174
DOI: 10.1055/a-1388-0295
Editorial

Alter Wein in neuen Schläuchen? Handlungsempfehlungen zur Gezielten Sedierung in der Palliativversorgung

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Christoph Ostgathe
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Eva Schildmann
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Christian Jäger
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Jan Schildmann

Liebe Leserin, lieber Leser,

Herr M. – ein gepflegter Mann mittleren Alters – hat immer großen Wert auf seine Selbstständigkeit gelegt. Und jetzt liegt er da, ist unheilbar erkrankt. Die schwere Luftnot quält ihn, außerdem leidet er an seinem Leben, so wie es im Moment ist, daran, auf Hilfe und Unterstützung angewiesen zu sein. Auf der Palliativstation hat das multiprofessionelle Team mit großem Einsatz schon vieles versucht – medikamentös und nicht medikamentös. Durch die Medikamente zur Symptomlinderung ist Herr M. im Bewusstsein eingeschränkt und verliert immer weiter an Selbsthilfefähigkeit. In wacheren Momenten beschreibt Herr M. seine Situation als unerträglich, will leben, aber so nicht, in anderen Momenten ist er einfach nur unruhig und wirkt leidend. Die Familie ist verzweifelt. Es gäbe noch so vieles zu klären. Das Team fragt sich, was zu tun ist: Ist wirklich alles versucht worden? Ist das, was bisher getan wurde, schon Sedierung oder noch Symptomkontrolle? Sollte dem Leid mit Maßnahmen zur gezielten Bewusstseinsreduktion (bis zum Lebensende) begegnet werden? Wäre das im Sinne des Patienten? Verkürzen diese Maßnahmen das Leben? Wie gehen wir mit Flüssigkeit und Ernährung um? Wie können wir die Familie bestmöglich unterstützen? Wie gehen wir als Team – auch mit unterschiedlichen Sichtweisen – mit der Situation um?

Diese oder ähnliche herausfordernde Situationen, in denen sich Fragen rund um den Einsatz sedierender Medikamente stellen, erleben Teams in der Palliativversorgung immer wieder, und es bestehen große Unsicherheiten. Wie mit sedierenden Medikamenten zur Leidenslinderung in der Palliativversorgung umgegangen wird, ist in den Einrichtungen ausgesprochen heterogen. Daten aus Deutschland zeigen, dass die eingeschätzte Häufigkeit des bewussten Einsatzes von Sedierung als Mittel zur Leidenslinderung in den Einrichtungen zwischen 0 und 80 % der Betroffenen schwankt [1]. Die Ursachen hierfür sind mannigfaltig, ein Grund ist sicher auch eine fehlende terminologische Klarheit. International wurden kürzlich 29 unterschiedliche Definitionen identifiziert, die sich inhaltlich und strukturell deutlich unterscheiden [2]. Bittet man Teams, aus vorgegebenen Fallberichten Fälle zu identifizieren, die sie mit bisher verwendeten Begriffen wie „palliative“ oder „terminale Sedierung“ bezeichnen würden, so fallen hier ebenfalls große Unterschiede auf [3].

Dies war der Ausgangspunkt des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts SedPall „Von der Anxiolyse bis zu tiefer kontinuierlicher Sedierung“. Ziel war es, Handlungsempfehlungen für Sedierung in der spezialisierten Palliativversorgung zu entwickeln, die helfen sollen, die Handlungssicherheit zu erhöhen. Grundlage waren ethische, rechtliche und konzeptionelle Analysen sowie die systematische Auswertung von bestehenden Handlungsempfehlungen beziehungsweise Leitlinien. Ergänzend wurden klinische Daten und Erfahrungen und Sichtweisen von Mitgliedern von Palliativversorgungsteams, Patient*innen und Angehörigen erhoben und ausgewertet sowie Meinungen von Expertinnen und Experten im Prozess der Entwicklung berücksichtigt.

Als erste und vordringliche Aufgabe hat der Verbund einen systematisch begründeten terminologischen Rahmen für die Sedierungspraxis entwickelt. Ziel war es, definitorische Unsicherheiten, die zu unterschiedlichen Handlungspraxen (s. o.) führen und negativen Einfluss auf die Behandlungsqualität haben können, zu vermindern. Wir haben uns im Prozess bewusst für den Begriff „Gezielte Sedierung (engl. intentional sedation)“ und gegen den zwar seit Längerem eingeführten, aber mit Unsicherheit und Unterschieden bezüglich der Definitionen verbundenen Begriff „Palliative Sedierung“ entschieden. Durch die Verwendung von „gezielt“ lässt sich die bewusste klinische Wahl von sedierenden Effekten (unabhängig vom Zweck) von solchen sedierenden Effekten unterscheiden, die unbeabsichtigt bei der Therapie belastender Symptome auftreten (z. B. durch erhöhte Schmerzmedikation) [4].

Gezieltes Sedieren bringt auch rechtliche Herausforderungen mit sich. Das gezielte Herbeiführen eines verringerten Bewusstseins vermindert/verhindert autonomes Handeln und die Fähigkeit, informierte Entscheidungen über den weiteren Behandlungsverlauf zu treffen. Es stellt somit einen tiefen Eingriff in den Kern der Persönlichkeit dar. Dies ist umso bedeutsamer, als Sedierung unter gleichzeitigem Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen den Todeseintritt beschleunigen kann [5]. Dies ist zum einen aus rechtlicher Sicht für die Abgrenzung zur Tötung von Bedeutung, zum anderen ist auch aus medizinischer Sicht nicht bei jeder Sedierungsform und nicht in jeder Situation ein Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen sinnvoll oder angezeigt. Die Empfehlungen sprechen sich daher dafür aus, den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen getrennt von der Frage zu betrachten, ob eine Sedierung und wenn ja, welche Art der Sedierung durchgeführt werden soll. Bei der gezielten Sedierung als Behandlungsmethode ist nach den Handlungsempfehlungen die Leidenslinderung primäres Ziel. Der maßgebliche Unterschied zur strafbaren vorsätzlichen Tötung liegt damit in dem vom Behandelnden zur Leidadressierung gewählten Mittel: Das Leid wird nicht durch Herbeiführung des Todes beendet, sondern durch eine am Leidensdruck orientierte medizinische Behandlung in Form einer Einschränkung oder Aufhebung der Erlebensfähigkeit.

Die systematische Auseinandersetzung mit den medizinischen, terminologischen, ethischen und rechtlichen Aspekten hat nun zur Veröffentlichung von 66 konsentierten Empfehlungen zu den Bereichen „Indikation“, „Intention/Zweck“, „Entscheidungsprozess“, „Aufklärung/Einwilligung“, „Medikation und Formen der Sedierung“, „Monitoring/Überwachung“, „Umgang mit Flüssigkeit und Ernährung“, „Fortsetzung sonstiger Maßnahmen“, „Begleitung der Zugehörigen“ und „Unterstützung im Team“ geführt. Wir glauben, mit diesem systematischen Ansatz neuen Wein in neuen Schläuchen zu präsentieren und die Handlungssicherheit in der spezialisierten Palliativversorgung (und darüber hinaus) zu verbessern. Im Nachfolgeprojekt iSedPall sollen konkrete Dokumentationsvorlagen und Entscheidungstools entwickelt und evaluiert werden.

Literatur siehe online.

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Christoph Ostgathe

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Eva Schildmann

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Christian Jäger

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Jan Schildmann

für das SedPall-Konsortium



Publication History

Article published online:
30 June 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Klosa PR, Klein C, Heckel M. et al. The EAPC framework on palliative sedation and clinical practice – a questionnaire-based survey in germany. Supportive Care in Cancer 2014; 22: 2621-2628
  • 2 Kremling A, Schildmann J. What do you mean by “palliative sedation”?. BMC Palliative Care 2020; 19: 147
  • 3 Stiel S, Nurnus M, Ostgathe C. et al. Palliative sedation in Germany: factors and treatment practices associated with different sedation rate estimates in palliative and hospice care services. BMC Palliative Care 2018; 17: 48
  • 4 Kremling A, Bausewein C, Klein C. et al. Intentional sedation as a means to ease suffering. A systematically constructed terminological proposal for sedation in palliative care. Palliative Medicine; 2021 in submission
  • 5 Alt-Epping B, Schildmann E, Weixler D. Palliative Sedierung und ihre ethischen Implikationen. Der Onkologe 2016; 22: 852-859