Z Sex Forsch 2021; 34(01): 56-57
DOI: 10.1055/a-1367-8603
Buchbesprechungen

Autopornografie. Eine Autoethnografie mediatisierter Körper

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Tobias Boll. Autopornografie. Eine Autoethnografie mediatisierter Körper. Berlin, Boston, MA: De Gruyter Oldenbourg 2019 (Reihe: Qualitative Soziologie, Bd. 25). 277 Seiten, EUR 29,95

Das vorliegende Buch verknüpft auf den ersten Blick Ethnografie und Pornografie. Wer an die Klassiker ethnografischer Feldforschung denkt (Malinowski, Whyte und andere), mag sich vage erinnern, dass deren Studien überwiegend im angezogenen Zustand stattfanden – soweit man weiß. Nun tritt, dank Tobias Boll, die im Feld hervorgerufene Lust an der Lust in den Vordergrund und wird zum Reflexionsgegenstand. Thema seiner Mainzer Dissertation bei Stefan Hirschauer sind homoerotische Internetkontakte in der direkten Bild-zu-Bild-Übertragung, und der Autor nimmt den Mund nicht zu voll, wenn er „Einblick aus ‚erster Hand‘ in die nötigen Körperpraktiken“ verspricht (S. 261). Das thematisierte „lüsterne Geschehen“ (S. 13) behandelt überwiegend sexualisierte Kommunikationen mit Mitgliedern einer mehr oder weniger anonymen Online-Community. „Mitglieder“ darf hier getrost buchstäblich verstanden werden, denn die übliche Bildroutine bei diesem Austausch stellt „der kopflose Torso mit erigiertem Penis“ dar (S. 70). Es geht also um Männer, die dank Webcam-Ausrüstung und stabilem WLAN-Empfang vor- und füreinander masturbieren.

Das forschende Bewusstsein muss ein wenig Platz einräumen für die körperliche Erregung, denn Boll mischt im Sinne autoethnografischer Körper(selbst)erfahrung tatkräftig mit. Man kann das durchaus „mediatisierte[r] Sexualität“ nennen (S. 2), schließlich schieben sich zwischen die körperlich Agierenden Kamera und Bildschirm, durch die der räumliche Abstand visuell überwunden wird. Aus dem sonst üblichen masturbatorischen Solipsismus wird auf der gewählten Webseite (deren Name der Autor prüde verschleiert) ein Interaktionsgeschehen auf Sicherheitsabstand. Das wirkt erfrischend aktuell, das Material stammt aber noch aus vorpandemischer Zeit. Boll interessiert, neben vielem anderen, wie „Körper in Bilder transformiert“ werden (S. 2). Sein Fokus gilt gewissermaßen einer epistemologischen Reduktion: weg vom Live-Akt zur Zweidimensionalität, mit nicht weniger, sondern eher mit mehr, zumindest aber mit anderem Erregungspotenzial.

Die zentrale Trias dieses Forschungsunternehmens lautet: Zeigen – Sehen – Erleben. Der Schwierigkeit, die praxeologische Komponente der körperlichen Eingebundenheit auf Buchform zu reproduzieren, begegnet Boll mithilfe von (verfremdeten) Bildausschnitten (Screenshots) und durch Abdruck der das Bildgeschehen begleitenden Textkommunikation. Die Versprachlichung dessen, was als Teil von Körperrealität sonst überwiegend „vorreflexiv“ abläuft, liest sich durchaus spannend. Nach jedem, wirklich jedem Exzerpt wird eine vertiefende Deutung angeboten, die zwischen hellen Einsichten und der Wiederholung des Offenkundigen schwankt. Auf diese Weise sollen die zugrunde liegenden „Orientierungs- und Organisationsmuster“ plastisch gemacht werden (S. 144). In der „Analysesituation“ war der Autor, wie er betont, übrigens wieder angezogen (S. 63). Berichtet er somit, sozusagen leiblich verstrickt in eine Forschungsschizophrenie von Handlung und Handlungsdeutung, über Praxen, an denen er teilhaben muss, um sie zu verstehen – oder schreibt er über sich selbst? Dies legt die überdeutliche Präsenz der „Ich-Reflexivität“ nahe, die sich auf den lebensweltlich-ethnografischen Anspruch der Untersuchung zurückführen lässt. Dann wiederum wird ihm mitten im Geschehen bewusst, dass bei all dem ja noch die Wissenschaft als „professionelles Nebenengagement“ mitläuft (S. 36). Schlängelt sich also der Erkenntnisweg vom Hobby hin zur Berufung? Immerhin, das wäre auch eine Möglichkeit, rein der Sache selbst zu dienen.

Apropos, Weber hat im Kontext der Idealtypen schwul-männlicher Subkultur einen Gastauftritt. Schwerpunktmäßig geht es allerdings eher um Konzepte von Männlichkeit und ihre mediatisierte Konstruktion sowie um die Verschränkung von Visualität und Körperlichkeit anhand einer experimentellen Annäherung. Dies führt zu interessanten Überlegungen über die verschiedenen Formen der Materialitätseinbindung in soziale Praktiken. Weniger gelungen sind die impliziten Pauschalisierungen über das ungenannte Chatportal und sein Publikum: Es könnte, wer weiß, auf der anderen Seite der Webcam schließlich Reflexionsniveaus geben, die im aktiven Geschehen nicht erahnt werden (so wie man Boll die „Nebenbeschäftigung“ in situ ja ebenfalls nicht ansieht). Überdies spielen die homoerotischen Kontakte in quantitativer Hinsicht kaum eine Rolle gegenüber den auf der Webseite ebenfalls angebotenen heterosexuellen Interaktionen, wenngleich diese, anders als jene, aufgrund eines „Belohnungssystems“ deutlich kommerzialisierter sind. Darüber erfährt man allerdings kein Wort.

Aufschlussreich sind, wie stets bei empirischen Untersuchungen, die Ausbrüche aus der Routine, was in diesem Fall heißt: die Momente, in denen das mitunter stundenlange, „tumbe“ (S. 49) Masturbieren irritiert wird. Vieles bietet sich inmitten einer sozialen Sphäre, die in Wort und Bild von großer Explizität geprägt ist, nicht an. (Selbstdeklarationen wie „benutzbares Fickstück“ (S. 100) wären alleine schon eine eigene Studie wert, die beispielsweise der Identitätspolitik unter den Bedingungen temporärer Aufenthalte im virtuellen Pornotopia gewidmet sein könnte.) In geringem Umfang krisenhaft dürfte noch am ehesten der asynchrone „Wankbuddy“ (S. 204) sein, der sehen und konsumieren, aber nichts geben und nichts zeigen will. Boll erzählt dann aber die Anekdote von der Frau, die sich plötzlich in seinen Chatraum einwählt, Augenzeugin der üblichen Vorgänge wird und damit erhebliche Irritationen auslöst. An die Usancen der mann-männlichen Auseinandersetzung gewohnt, entsteht für den Akteur plötzlich die Situation eines klassisch exhibitionistischen Kontextes (weiblicher Blick – männliches Genital), allerdings mit umgekehrter Unfreiwilligkeit (S. 240).

Bei vielen Werken ist es schwierig, auszumachen, wo der Höhepunkt liegt. Hier ist es Seite 203. Der autoethnografisch wenn auch vielleicht nicht legitimierte, so doch aufgezeichnete Orgasmus kennzeichnet den Augenblick einer tatsächlichen Überlassung des Forscherleibes in die Feldszenerie. Dagegen wirkt die Bemerkung Bolls, dass empirische Arbeit in „Swingerclubs oder Sexpartys“ problematisch sei, weil sich derlei „diskreditierend“ auswirken könne (S. 255), geradezu konservativ. Schließlich soll mit dem vorliegenden Werk eine praxeologische Aufwertung der Sexualsoziologie geleistet werden – die solchen Programmen bei näherer Betrachtung indes gar nicht so fern steht, wie hier insinuiert wird (vgl. S. 256).

Interessant zu lesen ist das Ganze ohne Frage. Das Reflexionsniveau ist bemerkenswert, bisweilen wirkt die Arbeit fast schon zu reflektiert, weil Daten manchmal auch für sich selbst sprechen können. Der gewählte Ansatz ist zweifellos mutig, weil er selbstentblößend, dadurch aber auch kreativ und aufregend ist. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, wirkt die Lektüre mitunter wie eine erotische Beichte und die Leserschaft wird wenigstens teilweise in eine voyeuristische Position gerückt – kein übler Schachzug, wo doch die Soziologie in vielerlei, eben auch in optischer Hinsicht eine erkenntnisgierige Disziplin ist. Da außerdem nicht mehr mit moralistischen Gegenargumenten bzw. hoffentlich nicht mehr mit pastoralmächtigen Beschützerinstinkten gegen solcherlei Forschung zu rechnen ist, würden wohl nur böse Zungen (ein Körperteil, das nicht so häufig vorkommt) den Vorwurf erheben, dass hier ein Masturbationstagebuch zur Dissertation 2.0 aufgeblasen wurde.

Weiß man mehr, wenn man weiß, wie es ist, etwas vor der Kamera zu tun, was traditionell ohne Bebilderung auskommt? Positiv gewendet, deutet sich hier vielleicht ein neuer pictorial turn an – eine Art explicit turn? – und Boll ist diesbezüglich der Avantgardist unter den Ethnografen. Pornograf ist er jedenfalls nicht. Soweit zu erkennen ist, macht er das, was Tausende andere regelmäßig auch tun. Die aktiven Körper in diesem Feld sind austauschbar, weil die Muster sich ähneln. Ob man einer dieser Körper tatsächlich sein muss, um zu wissen, was Camsex ist, darüber kann man streiten – genauso wie über die Frage, ob Selbstbeobachtung unter Feldforschungsbedingungen generell gelingen kann. Insofern liegt hier ein mit originellem Material gefülltes Plädoyer für die Künste der Autoethnografie vor, welches künftigen Debatten über Mittel und Möglichkeiten der Sozialforschung in intimen Feldern aufschlussreiche Impulse zu vermitteln vermag. Von der so unbändigen wie fingierten Domäne der Lust, die die Pornografie proklamiert, ist hier nichts zu sehen – weder im Buch noch im Feld. Eher geht es um Eigenregie, die das Onanieren sozial(er) macht. Dabei ist die Gesichtslosigkeit weniger Ausnahme als Norm: Flüchtig betrachtbar werden Körperpartien, die in der Flut des Immergleichen mehr oder weniger mit dem Strom schwimmen und hinter denen das Subjekt sich zeitweilig auf eine Weise auflösen darf, von der Foucault nicht zu träumen gewagt hat. Das mediale Angebot, das hier dokumentiert wird, ist die Gegenthese zur Logik einer körperlich erbrachten Acht-Stunden-Schicht (obwohl es das sicherlich auch online gibt). Vielmehr scheint die Botschaft der untersuchten Internetseite und ihrer Pendants das umgewandelte Motto von Youtube zu sein: „Broadcast yourself, enjoy yourself, tune off anytime.“ Bedeutsam sind individualisierte Medienkompetenz und der Dialog mit Gleichgesinnten, man betreibt Safer Sex, ist überwiegend kriminalitätsfrei und fast schon klinisch sauber. Das ist nicht mehr das, was Pornografie einmal war.

Selten lagen Eruieren und Ejakulieren so nahe beieinander wie hier. Ohne Frage ist die Studie über Autopornografie ein Bollwerk gegen empirische Prüderie. An dieser Stelle scheint es nicht unangebracht, eine vom Rezensenten hier und da bereits erwähnte Forschungslücke erneut anzusprechen: Wie wäre es, einmal die vielschichtigen Facetten lustvoller Erregung im Zusammenhang mit wissenschaftlicher Arbeit zu thematisieren? Das meint die nicht-intendierten, die zufälligen, die produktiven und eben auch die absichtlichen Aspekte. Der Erkenntnisgewinn wäre gewiss mindestens so vielschichtig wie die Erscheinungsformen des Phänomens.

Thorsten Benkel (Passau)



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. März 2021

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