Osteologie 2021; 30(01): 95-96
DOI: 10.1055/a-1352-9848
Nachruf

Nachruf Dr. med. Martin Runge

Jörn Rittweger
,
Hermann Schwarz
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Abb. 1 Dr. med. Martin Runge.

Martin Runge war Arzt mit Leib und Seele. Seine Patienten hat er geliebt, und zwar im Sinne der uneigennützigen ‚Agape‘. Im ständigen Fokus war das Wohlergehen oder, besser noch, das Heil seiner Patienten. Dabei war er außerordentlich gut belesen, gleichzeitig verstand er es aber auch, pragmatisch zu handeln, wo dies erforderlich war. Überraschend für uns alle ist er nun am 5. Januar für immer von uns gegangen. Er starb an einer nosokomialen Covid-Infektion.

Martin Runge wurde in Brilon im Sauerland geboren und verbrachte große Teile von Kindheit und Jugend in Bochum. Nach dem Abitur studierte er katholische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum und an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, u.a. bei Kardinal Ratzinger. Nach bestandenem Abschlussexamen fragte er sich jedoch, ob er sein ganzes Leben als dem Zölibat verpflichteter Priester verbringen wolle. Die Phase des Zweifels beendete er, indem er 1973 das Studium der Medizin an der Ruhr-Universität Bochum aufnahm. Nach Staatsexamen und Erteilung der Approbation im Jahr 1980 wurde er zunächst Assistent am physiologischen Institut in Bochum, wo er zu einem neurophysiologischen Thema promovierte. Es folgten klinische Weiterbildungs-Stationen in den Fächern Psychiatrie, Innere Medizin und Chirurgie. Dabei war die Zeit am Krankenhaus Berlin-Moabit nach eigenem Bekenntnis die ‚Pforte ins Leben‘. Nach erteilter Anerkennung zum Facharzt für Allgemeinmedizin 1985 gründete er eine Praxis in Duisburg und bildete sich parallel zum Facharzt für Klinische Geriatrie und für Physikalische und Rehabilitative Medizin weiter.

Ab 1991 war Martin Runge Ärztlicher Direktor der Aerpah-Kliniken in Esslingen und in Ilshofen. Hier erkannte er rasch die vordringlichen Erfordernisse um den altersbedingten Verlust der persönlichen Autonomie [1]. Dementsprechend erweiterte er, unter großer Mithilfe von Gisela Rehfeld, seine Akut-Geriatrische Klinik um eine Abteilung für geriatrische Rehabilitation und ein Pflegeheim für mittelfristige Unterbringung von Patienten. Auf diese Weise konnte Martin Runge den Anteil seiner Patienten deutlich steigern, die aus der Akut-Geriatrie wieder in ihre vertraute häusliche Umgebung entlassen werden. Damit nahm er eine Vorreiterrolle ein bei der Bearbeitung eines Problems, das heute noch wichtiger scheint als vor 20 Jahren. Auch war Martin Runge schon damals fest davon überzeugt, dass das Ende der Organmedizin erreicht sei. Auch dies erwies sich als richtige Prophezeiung, und es war eine der wichtigen Wegweisungen an mich (Jörn Rittweger). Schaue ich mir heute die quasi im Monatstakt ‚neu‘ entdeckten ‚Organ-Achsen‘ an (Beispiel: Darm-Leber-Achse, was eigentlich nichts anderes ist als die Pfortader), so sehe ich Martin wie in so vielem bestätigt, und ich frage, wann man den Menschen endlich als Netzwerk ansehen wird.

Die Rolle als Ärztlicher Direktor erlaubte es Martin Runge, sich neben seiner klinischen Tätigkeit auch wieder mit der Forschung zu befassen. Am Anfang stand dabei die klinische Beobachtung, dass das Ende eines jeden Lebens von Gang- und Bewegungsstörungen angekündigt wird. In der Konsequenz entwickelte er die Mobility Clinic in Esslingen, gemeinsam mit Frau Ernie Resnicek, die ihn tatkräftig beim geriatrischen Assessment und später auch bei Trainings-Interventionen unterstützte. Seine persönlichen Beobachtungen zu dem Thema, angereichert um ein profundes Literatur-Studium (als Theologe hatte er das Lesen ja gelernt), hat der dann 1998 als Buch veröffentlicht, unter dem Titel Gehstörungen, Stürze, Hüftfrakturen [2]. Er war damit der Erste, der dieses wichtige Thema in Deutschland aufgriff. In der Folge nutzte er dann die Mobility Clinic, um Daten zu erheben und die wissenschaftlichen Probleme zu untersuchen, die er für klinisch dringend hielt. So setzte er noch im selben Jahr 1998 das Projekt Parameter für Instabilität und Stürze im Alter (PISA) in Gang, aus dem zahlreiche Erkenntnisse hervorgingen, u.a. die Reliabilität [3] und Validität [4] der Sprung-Mechanographie. Der Begriff Mechanographie stammt übrigens auch von Martin Runge und interpretierte die Kraftkurven der menschlichen Bewegung nicht nur beim Sprung, sondern auch beim Hüpftest, beim Chair-Rising Test, bei Rumpfbeugen, Treppensteigen und anderen Tests, die er teils ad hoc erfand. Ebenfalls von Martin Runge stammt der Begriff Esslinger Fitness Index, der die altersnormierte mechanische Sprungleistung einer bewegungskompetenten Bevölkerung beschreibt. Die Betonung liegt auf ‚bewegungskompetent‘ im Gegensatz zu ‚Normal-Bevölkerung‘, wobei Letztere eben auch inkompetente einschließt. Diese Unterscheidung vertrat er vehement, denn als Geriater und Rehabilitations-Mediziner war für ihn natürlich die motorische Kompetenz essenziell. Hier befand und befindet er sich im Widerspruch zu fast allen anderen Kollegen und Forschern, inklusive seiner Freunde und Weggefährten. Für mich war diese Auffassung der Anlass, mich seit 1999 mit den sogenannten Master-Athleten zu befassen, und die erste Begegnung mit dieser Population fand in Martin Runges Mobility Clinic statt. Wichtig ist auch, dass Martin Runge sich auch stark für die Bewegungstherapie engagiert hat. So setzte er in seiner Klinik recht früh neben der klassischen Physiotherapie auch das Ganzkörpervibrationstraining ein, und deren Nutzen in der Geriatrie hat er durch Studien belegt [5]. Persönlich bin ich (Jörn Rittweger) sehr dankbar, dass ich diese Erfahrungen gemeinsam mit ihm im vergangenen Jahr noch in einem Buchkapitel zusammenfassen durfte [6].

Martin war aber nicht nur Mediziner, er war vor darüber hinaus ein „Herzmensch“ − lebensbejahend, empathisch, fröhlich und positiv, nicht nur als Arzt, sondern auch als Freund. Er wollte und musste die Dinge, die es zu diagnostizieren und zu behandeln gab, auch von Grund auf verstehen. Er hatte das Engagement und den analytischen Verstand eines Wissenschaftlers im ursprünglichen Sinne. Und auch hier war immer die Gesamtsicht für ihn wichtig. In der Osteologie, seinem wichtigsten Steckenpferd, reichte es ihm nicht aus, die Chemie und Physiologie des Knochens zu verstehen: Für ihn waren der Knochen und seine Frakturen, die er als Geriater erlebte, nur ein Teil des gesamten Bewegungssystems. Er sah die Bewegung des Menschen als wichtigen und essenziellen Ausdruck des Lebens.

Wer seine lebendigen und bildreichen Vorträge erlebt hat, wird nicht vergessen, wie er die These aufstellte, dass der „Sensenmann“ nicht schneller als 1 Meter pro Sekunde gehen könne. Diese These belegte er zur Verblüffung der Zuhörer dann mit wissenschaftlicher Plausibilität [7]. Seine Therapie: die 5 Esslinger! Wissenschaft diente untergeordnet ihrer einfachen, klaren und praktikablen Umsetzung! Überhaupt waren seine Vorträge eigentlich keine Vorträge, sondern echte Events mit allen Sinnen. Er analysierte, diskutierte, argumentierte, predigte seine Überzeugungen mit Stimme, Gesten, Körpereinsatz und sportlichen Einlagen, zu denen er auch Kollegen auf die Bühne holte, um seine Thesen zu beweisen. Auch in diesem Sinne war er ganzheitlich. Er bewahrte aber immer die Balance und blieb solide auf dem Weg der korrekten Wissenschaftlichkeit. Seine Vorträge waren einprägsame Erlebnisse, so wie die Person Martin Runge selbst.

Martin Runge war immer authentisch. Seine wichtigste Leitschnur war sein Gewissen. Diesem ordnete er Regeln, Etikette und Konventionen konsequent unter. Und wenn er von etwas überzeugt war, kämpfte er mit Verve, Ausdauer und aller Energie dafür oder dagegen.

Ich (Hermann Schwarz), lernte ihn im Rahmen der Veröffentlichung der ersten DVO-Leitlinie 2003 kennen. Martin war der Überzeugung, dass nicht die DXA-Methode, sondern das pQCT die geeignete Methode für die Osteoporosediagnostik sei. Dies argumentierte er messerscharf, kämpferisch und plausibel. Dass die Regularien einer Leitlinienerstellung seine Überzeugung und seine wissenschaftliche Erkenntnis stechen könnten, wollte er nicht akzeptieren. Zudem fehlte ihm die ausreichende Berücksichtigung des Knochen-Muskel-Interface in der Leitlinie. An diesem Punkt kämpfte er wie ein Samurai für seine Überzeugung und gegen die Leitlinie. Wenn ich zu ihm oder seinen Qualitätszirkeln fuhr, fragte mancher osteologische Freund, ob ich mir das wirklich antun und mir meine „Prügel“ abholen wolle. Ich tat es, und Martin und ich kreuzten funkend die Klingen, argumentierten, kämpften und näherten uns an. Es wurde eine Freundschaft daraus, eine Freundschaft in Spannung, Diskussion, aber auch Spaß, tiefen Gesprächen und Verbundenheit. Als ich 2017 im Rahmen einer beruflichen Neuorientierung eine neue DXA-Maschine brauchte, erhielt ich die von Martin, die er von Dieter Felsenberg aus der Charité hatte. Martin sagte mir damals: Jetzt kann ich als Arzt und Osteologe in Frieden aufhören. Du hast mein DXA-Gerät und kannst jetzt meine Medizin weiterführen. Ich weiß es in guten Händen.

Warum diese Anekdote? Weil sie Martin Runge beschreibt und würdigt. Ein Nachruf, der ausschließlich Daten, Verdienste, Fakten aufführt, würde ihm niemals gerecht werden können. Nur ein Nachruf, der die wunderbare, wertvolle, überzeugte und überzeugende, lebensbejahende und prägende Person von Martin Runge durchscheinen lässt, kann diesem wunderbaren Arzt, Kollegen und Freund gerecht werden.

Martin, dein Leben ist uns, und vermutlich vielen anderen, ein Vorbild!

P.S.: Wer Martin Runge noch einmal ‚live‘ erleben möchte, der kann sich auf Youtube seinen Kanal anschauen. Besonders empfehlenswert: Die Rückkehr des Frühlings.



Publication History

Article published online:
05 March 2021

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  • Literatur

  • 1 Runge MJDA. Wenn Hochbetagte aus dem Leben fallen. Der Allgemeinarzt 2000; 4: 286-294
  • 2 Runge M. Gehstörungen, Stürze, Hüftfrakturen. Darmstadt: Steinkopff Verlag; 1998
  • 3 Rittweger J. , Schiessl H, Felsenberg D et al. Reproducibility of the jumping mechanography as a test of mechanical power output in physically competent adult and elderly subjects. J Amer Geriatr Soc 2004; 52: 128-131
  • 4 Runge M. Rittweger J, Russo CR et al. Is muscle power output a key factor in the age-related decline in physical performance? A comparison of muscle cross section, chair-rising test and jumping power. Clin Physiol Funct Imaging 2004; 24: 335-340
  • 5 Runge M, Rehfeld G, Resnicek E. Balance training and exercise in geriatric patients. J Musculoskelet Neuronal Interact 2000; 1 (01) : 61-65
  • 6 Runge M, Rittweger J. Whole-Body Vibration in Geriatric Rehabilitation. In: Manual of Vibration Exercise and Vibration Therapy. Cham: Springer; 2020: 255-268
  • 7 Stanaway FF, Gnjidic D, Blyth FM. et al. How fast does the Grim Reaper walk? Receiver operating characteristics curve analysis in healthy men aged 70 and over. BMJ 2011; 343: d7679