Adipositas - Ursachen, Folgeerkrankungen, Therapie 2021; 15(01): 48-49
DOI: 10.1055/a-1346-1857
Gesellschaftsnachrichten
Mitteilungen der Deutschen Adipositas-Gesellschaft

Lernen aus der Pandemie für die Pandemie – Praxis im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik

Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter, einer Arbeitsgemeinschaft der DAG

Seit fast einem Jahr stehen wir nun im Zeichen von SARS-CoV 2 – ein Jahr, geprägt von zahlreichen Herausforderungen durch den Lockdown, Social Distancing und viele Unsicherheiten. Gerne möchten wir als Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) im Rückblick auf 2020 nun einen positiven Aspekt aufgreifen, der auch für die Bewältigung der Herausforderungen kommender Jahre hohe Relevanz besitzt: die Zusammenarbeit von Politik, Wissenschaft und Gesundheitsversorgung! So ist nach wie vor bemerkenswert, wie unter Berücksichtigung epidemiologischer Daten und statistischer Modelle Maßnahmen konzipiert und entsprechend der wachsenden Datenlage adjustiert wurden und werden, um Menschenleben zu schützen und den gesamtgesellschaftlichen Schaden der Pandemie möglichst gering zu halten. Die bisher für die Öffentlichkeit meist unbekannte Kommunikation und Diskussion wissenschaftlicher Erkenntnisse und Arbeitsweisen mag manchmal wie Vor-Seit-Rück wirken. Sie spiegelt aber in sehr typischer Weise einen wissenschaftlichen Diskurs wider, auf den politische EntscheidungsträgerInnen umsichtig reagiert haben. Darüber hinaus zeigt die Pandemie, dass Prävention einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion von Behandlungs- und Folgekosten leisten kann, sofern eine – mit allen relevanten AkteurInnen abgestimmte – langfristige Strategie verfolgt wird.

Auch wenn die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft aufgrund ihrer Dynamik und in Ermangelung erprobter therapeutischer Maßnahmen in besonderer Weise fordert, gibt es parallel moderne Pandemien, die leiser und schleichender voranschreiten, in der Konsequenz aber ebenfalls bedrohlich sind. Dazu gehört die Adipositas (= extremes Übergewicht), die durch den heutigen Lebensstil auch in Deutschland weit verbreitet ist und durch die aktuellen Einschränkungen (Reduktion von Bewegungs- und Sportmöglichkeiten; höhere Nutzung audiovisueller Medien) möglicherweise noch verstärkt wird. Menschen mit Adipositas gelten nicht nur in der Covid-19-Pandemie als vulnerable Gruppe. Sie sind durch eine eingeschränkte Lebensqualität und Lebenserwartung sowie erhöhte Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Lungenerkrankungen, Malignome etc. generell besonders gefährdet. Im Jahr 2015 beliefen sich die direkten Krankheitskosten (Krankengeld, Pflegekosten) auf über 23 Milliarden Euro, die indirekten Kosten infolge von Arbeits- und Produktivitätsausfällen sowie Erwerbsunfähigkeit auf über 33 Milliarden Euro. Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern zeichnet sich eine solche Entwicklung seit Jahren ab. So sind in Deutschland 2 Millionen Kinder und Jugendliche von Adipositas betroffen, weltweit laut der Weltgesundheitsorganisation etwa 340 Millionen in der Altersgruppe der 5- bis 19-Jährigen. Neben einer ebenfalls eingeschränkten Lebensqualität und dem psychosozialen Druck finden sich bereits in diesem Alter zunehmend Erkrankungen, die sonst erst im Erwachsenenalter aufgetreten sind, wie ein Altersdiabetes oder eine Fettleber. Aufgrund der individuellen Belastung, der enormen gesundheitlichen Risiken sowie der vermeidbaren gesamtgesellschaftlichen Kosten ergibt sich die dringende Notwendigkeit einer Intensivierung von Maßnahmen in der Prävention und Therapie der (kindlichen) Adipositas. So sollte allen Entscheidungs-, vor allen KostenträgerInnen im Gesundheitswesen klar sein, dass aus Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht mit großer Wahrscheinlichkeit adipöse Erwachsene (und damit zukünftige Eltern) werden, die nicht nur die genetische Disposition, sondern auch einen adipogenen Lebensstil weitergeben. Hierdurch dreht sich diese Spirale leise weiter und weiter, mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gesamtgesellschaft! Und dieses Wissen ist nicht neu, sondern jahrzehntealt! In der wissenschaftlichen Literatur findet sich daher umfassende entsprechende Evidenz, was Folgeerscheinungen, aber auch erfolgreiche Gegenmaßnahmen angeht. Letztere fokussieren vorrangig verhältnispräventive Ansätze im Sinne der Ausgestaltung von (kindlichen) Lebenswelten, z. B. der Konzeption von Rad- und Schulwegen, attraktiven Spielplätzen sowie Lebensmittelkennzeichnung u. v. m. Längst überfällig ist die politische Auseinandersetzung mit einer besseren Nahrungsmittelversorgung in Schulen, einer Zuckersteuer sowie einem Werbeverbot von sogenannten „Kinderlebensmitteln“ – wie sie von der AGA und Deutschen Adipositas-Gesellschaft bereits mehrfach gefordert wurden. Denn auch wenn im Kontext von Übergewicht und Adipositas politische Ansätze erkennbar sind, zeigt sich nach wie vor, dass es keine Trendwende gibt. Stattdessen bleibt die Prävalenz von Übergewicht im Kindes- und Jugendalter auf einem hohen Niveau stehen; schlimmer noch – auch bei normalgewichtigen Kindern findet sich infolge des heutigen Lebensstils eine Zunahme an Körperfettmasse und Abnahme an Muskelmasse. Um also die angesprochenen Probleme zu lösen, sind die Anerkennung von kindlicher Adipositas als chronische Erkrankung und die Kostenübernahme von ambulanten und stationären Schulungsmaßnahmen sowie effektive und evidenzbasierte Präventionsmaßnahmen die wesentlichen Voraussetzungen.

Auf Basis der guten Erfahrungen dieser Pandemie ist wünschenswert, dass sich politische EntscheidungsträgerInnen auch in diesem Kontext deutlicher auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse und weniger auf Einflüsse der Lebensmittellobby verlassen und umgehend „mutige“ Maßnahmen für die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen einleiten. Denn neben präventiven Maßnahmen ist die Versorgung bereits seit Jahren durch ein leises und schleichendes Sterben der durchführenden Einrichtung gefährdet. Nicht zuletzt ist dies auf die unzureichende Finanzierung von evidenzbasierten und leitliniengetreuen Adipositas-Schulungsmaßnahmen zurückzuführen, die notwendig sind, betroffenen Kindern, Jugendlichen und ihren Familien adäquate Hilfe anbieten zu können. Die Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter der Deutschen Adipositas-Gesellschaft hat gemeinsam mit der Konsensusgruppe Adipositasschulung für Kinder und Jugendliche (KgAS) ein entsprechendes Manual zur Schulung bzw. Ausbildung von Trainern und Therapieeinrichtungen entwickelt, seit etwa 10 Jahren erfolgt eine Zertifizierung entsprechender Einrichtungen bzw. Trainer durch beide Fachgesellschaften. Leider hat dies auch bisher nicht zu einer verbindlichen Zusage der Kostenübernahme für Schulungsmaßnahmen von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas durch politische EntscheidungsträgerInnen geführt.

Es bleibt daher zu hoffen, dass die Lehren aus der SARS-CoV 2-Pandemie auch einen Beitrag zu einer besseren Adipositasprävention und -therapie für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen und deren Familien leisten, denn:

Die Gesundheit von Menschen, die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat einen großen Wert – nicht nur infektiologisch!

Prof. Dr. med. Dr. Sportwiss. Christine Joisten im Namen des Vorstandes der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter



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Article published online:
12 March 2021

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