intensiv 2021; 29(03): 118-119
DOI: 10.1055/a-1329-0345
Kolumne

Meine Zimmerreise

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Quelle: Paavo Blåfield/Thieme Gruppe

„Wie spannend es zu Hause sein kann.“

(Xavier de Maistre (1763–1852), französischer Schriftsteller)

Vor mehr als 200 Jahren wurde Xavier de Maistre wegen eines Duells zu sechs Wochen Hausarrest verurteilt. Er lebte damals in einer kleinen Dachgeschosswohnung in Turin. Aus diesen 42 Tagen Arrest wurde ein Buch: „Die Reise um mein Zimmer“. Und was der Autor wohl selbst am wenigsten erwartet hatte, war, dass es zum Bestseller (obwohl es damals sicherlich anders bezeichnet wurde) avancierte. Seine damalige Reaktion auf den Erfolg seines Buches war: „Mein Herz empfindet eine unaussprechliche Befriedigung, wenn ich an die zahllosen Unglücklichen denke, denen ich ein sicheres Hilfsmittel gegen Langeweile und eine Linderung der Leiden, die sie erdulden, anbiete.“ Wer hätte gedacht, dass heute in Zeiten von Corona, von Homeoffice, Homeschooling, Ausgangs- und Reisebeschränkungen und besonders Quarantäneauflagen dieses kleine Buch zu neuer Beachtung fand und Inspiration für viele Menschen wurde. Es hat 42 Kapitel, und in jedem einzelnen nimmt der Autor sich einen anderen Gegenstand aus seiner Wohnung vor und erzählt dessen wahre oder mögliche Geschichte.

Jetzt könnte ich ja, um meinem Auftrag für eine Fachzeitschrift gerecht zu werden, eine solche Zimmerreise durch ein Patientenzimmer, einen Stationsstützpunkt, einen Personalaufenthaltsraum oder Verbandsraum starten und dabei sicherlich auf eigenartige Dinge oder Fantasien stoßen – und vielleicht mache ich das auch mal. Aber in den vergangenen zwei Wochen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen einer sogenannten „Pendelquarantäne“: Ich wurde als Kontaktperson von einer positiv getesteten Kollegin angegeben, erhielt einen Anruf vom Gesundheitsamt und wurde zu zwei Wochen dieser besonderen Isolation „verdonnert“. Das hieß genau: Ich durfte zur Arbeit, musste mich aber während der Freizeit isolieren. Ich habe das alles auch schön so gemacht, wie es auf dem prompt per Post folgenden Flyer stand, fand aber die Gesamtsituation leicht bizarr. Und genau in dieser Zeit habe ich auch von den Zimmerreisen gehört und gelesen. Ich saß in letzter Zeit häufig auf meiner Couch, habe mich im Zimmer umgesehen und über Möbelstücke, Bilder, Bücher, CDs, sogar Geschirr oder auch Dekoartikel nachgedacht und Erstaunliches festgestellt.

Zum Beispiel der Tisch, an dem ich gerade sitze und schreibe. Er ist mein Lieblingsmöbelstück. Vor mehr als 20 Jahren habe ich ihn mir gekauft, und er war damals, für meine Verhältnisse, unverschämt teuer. Er hat ein sehr schönes, zeitloses Design und ist wirklich noch aus Holz. Vier Umzüge hat er unbeschadet überstanden, dennoch sind durchaus Gebrauchsspuren zu erkennen. Das macht aber nichts. Das gibt ihm Charakter. An ihm haben unzählige Begegnungen stattgefunden. An ihm wurde nicht nur gegessen, sondern auch geweint und gelacht. Es spielten sich unglaublich lustige Abende mit der Familie oder Freunden ab. Aber auch Dramen. Am Tag des Todes meines Vaters saß die ganze Familie an diesem Tisch und war voller Traurigkeit. Großer Liebeskummer wurde hier ausgelebt, die Weltpolitik diskutiert, Frust abgelassen und Glück und Freude zelebriert. Und es wurde an diesem Tisch schon sehr viel Alkohol getrunken. Vor einiger Zeit waren zwei Bekannte zu Besuch bei mir. Wir wollten einen Spieleabend machen, und da ist es passiert! Eine der Bekannten hat den Aschenbecher verfehlt und ein Brandloch in den Tisch fabriziert. Wir waren beide, vorsichtig ausgedrückt, geschockt. Der Abend war mehr oder weniger gelaufen. Aber sie hat alles gegeben: Sie hat Freunde und Bekannte mit entsprechendem Wissen, wie so etwas zu reparieren sein könnte, um Rat gebeten, und es ist ihr tatsächlich gelungen, mit diversen Werkzeugen und Lacken den Schaden wegzuzaubern. Ich war wirklich glücklich darüber – und sie auch. Dabei ist es nur ein Tisch. Aber eben mein Lieblingsmöbel.

Über diesem Tisch an der Wand hängen vier Zeichnungen meines Vaters. Er wollte als junger Mann, nachdem er die Ausbildung zum Tischler abgeschlossen hatte, unbedingt Holzbildhauer werden, und wahrscheinlich im Rahmen dieses Berufswunsches hat er Zeichnungen und Skizzen gemacht und in einer Skizzenmappe aufbewahrt. Als er gestorben war, haben jedes Kind und sein Enkel von unserer Mutter etwas von unserem Vater beziehungsweise Großvater bekommen, das für uns von Bedeutung sein könnte. Mir war diese Skizzenmappe zugedacht und war extrem be- und gerührt. Zumal uns unser Vater diese Mappe nie gezeigt hatte. Er hatte nie als Holzbildhauer gearbeitet und ist nach seinem Studium Offizier geworden. Seine Kreativität hat uns sein ganzes Leben lang begleitet. Aber auch die leise Traurigkeit, dass keines seiner Kinder oder sein Enkel künstlerische Fähigkeiten zeigte. Vier dieser Skizzen habe ich ausgewählt. Zwei Porträts, eine Studie von Händen und einen Leuchter (den meine Mutter heute noch hat). Ich habe einige Mühe verwendet, die passenden Rahmen und Passepartouts zu finden. Heute freue ich mich sehr über diese Bilder. Sie erzählen so viel und sind etwas ganz Besonderes und Einmaliges.

So gäbe es auf dieser Zimmerreise vieles zu erinnern und zu erzählen. Von meinen Büchern. In absehbarer Zeit steht ein Umzug bei mir an. Mein Auftrag – von meinem Sohn gegeben – ist es, den Bestand mindestens zu halbieren. Mehrmals habe ich schon angefangen auszusortieren. Mit sehr, sehr wenig Erfolg. Oder von einer besonderen Porzellandose. Vor Jahren hatte ich mich in diese scheinbar unbezahlbare Dose verguckt. Zu einem runden Geburtstag habe ich sie von meinem besten Freund geschenkt bekommen. Mein Sohn bezeichnet sie immer als „goldene Kuh“, weil ich, wenn wir umziehen oder nur renovieren, schon fast panisch werde, dass sie das unbeschadet übersteht. Dabei findet er die Dose nicht einmal schön. Aber mir bedeutet sie viel.

Ich weiß, dass die aktuelle Situation in vieler Hinsicht für alle Menschen sehr nervig und beschwerlich ist. Ich weiß auch, dass so eine „Zimmerreise“ keine richtige Reise ersetzen kann. Aber ich glaube, dass man sich daran freuen kann. Zeigt es doch, was man schon alles erlebt und gesehen hat. Und ich finde diese Idee so schön.

In diesem Sinne

Ihre

Heidi Günther

hguenther@schoen-kliniken.de



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
04. Mai 2021

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