Nervenheilkunde 2021; 40(05): 367-376
DOI: 10.1055/a-1298-1189
Geist & Gehirn

Wen sollen wir impfen?

Zur Wissenschaft, Ethik, Moral und zu den Folgen der Priorisierung
Manfred Spitzer

Zusammenfassung: Eine Besonderheit der gegenwärtigen Corona-Pandemie ist die Tatsache, dass die Entwicklung von Impfstoffen noch nie so rasch erfolgte. Ein Jahr nach Beginn und bei noch geringer postinfektiöser Immunität von etwa 1,6 % der Weltbevölkerung[ 1 ] durchleben wir im Moment die besonders dramatische Situation, dass bereits mehrere Impfstoffe zugelassen sind, die aufgrund der Knappheit[ 2 ] aber nicht allen sofort zur Verfügung stehen können. Die Produktion von 15 Milliarden Impfdosen zur 2-maligen Impfung der Weltbevölkerung baucht Zeit. Es ist vernünftig und in der Medizin üblich, sich die Frage zu stellen, wie mit knappen Ressourcen umgegangen werden soll. Hierbei greifen medizinische, naturwissenschaftliche, moralische und ethische Gesichtspunkte ineinander, was die Diskussion bisweilen erschwert. Der Beitrag befasst sich daher mit der Problematik der Impfpriorisierung in einer allgemeinen interdisziplinären Übersicht und im Epilog mit dem konkreten Anwendungsfall „Deutschland im März 2021“.

Bei weltweit etwa 123 Millionen Infizierten und 2,7 Millionen Toten sowie dem Auftreten neuer gefährlicherer und sich rasch verbreitender Varianten des Virus befinden sich viele Länder mittlerweile (Stand: 21. März 2021) in der dritten Infektionswelle der Corona-Pandemie. Deren Zentrum bildet mit etwa 45 Millionen Infizierten und über 880 000 Verstorbenen das geografische Europa ([ Tab. 1 ]).

Tab. 1

Übersicht zur Anzahl der Infizierten (in Millionen) und Verstorbenen (in Tausend) weltweit und in verschiedenen Bereichen der Erde. Sowohl das geografische Europa als auch die EU als Teilmenge davon führen das Infektionsgeschehen an (nach Daten der Johns Hopkins University vom 21.3.2021).

Wo

Infizierte (Mio)

Tote (Tsd)

Europa*

44,7

883

EU

31,9

592

USA

29,8

542

Brasilien

11,9

290

Indien

11,6

160

Deutschland

2,7

75

weltweit

123,0

2703

*) EU plus Großbritannien, Russland, Ukraine, Belarus, Georgien, Serbien, Moldawien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Albanien, Montenegro und die Schweiz.

Bei jeder Pandemie müssen nicht nur die Kranken behandelt, sondern auch die weitere Ausbreitung des Erregers verhindert werden. Hierzu gab es schon vor 102 Jahren während der Influenza-Pandemie die seither bekannten Maßnahmen der Hygiene, der Desinfektion, der körperlichen Distanzierung und viele weitere nicht pharmakologische Interventionen (NPI), die heute mit Anglizismen wie Lockdown und Shutdown bezeichnet werden: Schließungen von Kitas und Schulen, Märkten, Läden, Hotels und Gaststätten, Geschäften, Schwimmbädern und vieler anderer Waren- oder Dienstleistungsgeschäfte bis hin zu Versammlungsverboten, Reise- und Ausgangsbeschränkungen. Mit all diesen Maßnahmen werden Ansteckungen vermieden und damit der R-Wert gesenkt. Liegt er unter 1, dann nimmt die Pandemie ab, liegt er über 1, dann nimmt sie zu.

Seit gut 3 Monaten sind zudem Impfstoffe gegen den Erreger SARS-CoV-2 bzw. die Erkrankung COVID-19 zugelassen, deren Verfügbarkeit dem weltweiten Bedarf noch längst nicht entspricht. In dieser Situation stellt sich daher zwangsläufig die Frage nach der optimalen Impfstrategie, d.h. danach, wer den Impfstoff bekommen soll, wenn nicht alle kurzfristig geimpft werden können [43]. Wie wir derzeit leidvoll erleben, wird dies noch über Monate bis in den Herbst hinein der Fall sein. Die Antwort auf die Frage lautet daher, dass wir so impfen sollten, dass für alle der größtmögliche Nutzen dabei herauskommt – das ist die Meinung sehr vieler Menschen. Damit stellen sich jedoch 2 Fragen: Was ist der größtmögliche Nutzen und wer sind „alle“?

Die im folgenden Text diskutierten Tatsachen sind nicht neu, sollten jedoch der Diskussion was wir tun sollten, zugrunde gelegt bzw. dabei berücksichtigt werden. Sie betreffen medizinische, empirisch-naturwissenschaftliche aber auch moralische und ethische Gesichtspunkte, die im Folgenden diskutiert werden sollen. Wie sich herausstellen wird, gibt es keine einfache Antwort auf die gestellte Frage. Sie hängt vielmehr von den vorliegenden medizinischen, wissenschaftlichen und moralischen Gegebenheiten selbst ab. Einig ist man sich in der Literatur übrigens sehr weitgehend darin, dass zu erst das medizinische Personal geimpft werden muss, um das Gesundheitssystem (und damit auch die Impfungen) am Laufen zu halten. Wenn von Priorisierung die Rede ist, so schreiben beispielsweise die Autoren einer in Science hierzu erschienenen Arbeit, dann geht es eigentlich darum, „wer die Impfdosen bekommt, die danach folgend verimpft werden“[ 3 ] [38].



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
04. Mai 2021

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