Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(12): 754-755
DOI: 10.1055/a-1289-4178
Buchbesprechung

„Kontinuität und Innovation”

Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Philipps-Universität Marburg
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Wer dieses Buch aufschlägt und nach Orientierungsmarken sucht, wird zunächst einmal feststellen, dass es darin auch zwei weit über den Standort Marburg hinausgreifende Kapitel gibt.

Das erste (1.) ist der Historie der deutschsprachigen, europäischen und internationalen Kinder- und Jugendpsychiatrie insgesamt gewidmet und geht in diesem Zusammenhang auf die frühen Wechselbeziehungen zwischen den entsprechenden Fachgesellschaften, die ersten Institutionsgründungen sowie auch organisatorischen und berufspolitischen Perspektiven ein. Man liest es wie eine breite, der nötigen Übersicht dienende Eröffnung, die es dem Autor dann anschließend erlaubt, den Blickwinkel konkretisierend auf die Anfänge der deutschen Kinderpsychiatrie und deren weitere Entwicklung an der Philipps-Universität in Marburg einzuengen. Das zweite standortübergreifende Kapitel (16.) stellt dann genau umgekehrt nach langer Fokussierung auf die Fachentwicklung in Marburg die einleitend eingenommene globale Perspektive gewissermaßen zukunftsweisend wieder her. Darin werden nämlich jetzt abschließend die wichtigsten Initiativen und Aktivitäten noch einmal zusammengestellt, durch die das Geschehen in Marburg eine so große Bedeutung für die Entwicklung des Fachs in Deutschland, Europa und im internationalen Bereich gewonnen hat.

Dazwischen erstreckt sich folgerichtig gegliedert in insgesamt 14 weitere Kapitel (2.-15.) der eigentliche Inhalt, um den es dem Autor in diesem Buch geht. In Marburg ist ja auf eine sehr entschieden und mit Nachdruck betriebene Initiative der Erwachsenenpsychiatrie hin 1954 der erste Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie eingerichtet worden und bald darauf 1958 auch die erste eigenständige Universitätsklinik für dieses Fach in der noch jungen Bundesrepublik entstanden. Mit großer Akribie, sehr detailliert und doch zugleich übersichtlich werden alle die strukturgebenden Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse beschrieben, denen sich dieser Gründungsakt, sein modellhafter weiterer Auf- und Ausbau sowie auch die ebenso erfolg- wie einflussreiche Fortentwicklung in dem langen Zeitraum zwischen 1946 und 2017 verdankt. Die Methodik, mit der dies geschieht, ist die eines engagierten Zeitzeugens, der die benutzten Materialien zwar klar benennt und oft auch tabellarisch aufbereitet oder in eigenen Verzeichnissen (17.-25.) durchsichtig macht, aber genauso auch vieles an persönlichen Erlebnissen, Erfahrungen und Bewertungen mit einfließen lässt.

Umso mehr muss man anerkennen, wie gründlich und gewissenhaft sich der Autor auch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit (2.) der beiden Gründungsväter Werner Villinger, Direktor der Marburger Klinik für Psychiatrie und Nervenheilkunde von 1946 bis 1958, und seines damals mit ihm von Tübingen nach Marburg gewechselten Assistenten und späteren Oberarztes Hermann Stutte, erster Direktor der neu gegründeten Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bis 1979, auseinandersetzt. Genauso differenziert bringt er an anderer Stelle (9.) auch seine Sicht der „unruhigen Jahre“ in Marburg, als die 1968-er Bewegung die längst fällige Antwort auf die Verstrickung der Vätergeneration in den Nationalsozialismus geben wollte und daraus konflikthafte Konsequenzen für die Hochschulpolitik und insbesondere auch die Psychiatrie erwuchsen, in das Buch mit ein.

Helmut Remschmidt selbst hat 1980 die Nachfolge von Hermann Stutte angetreten und von da an die Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Marburger Universität in beeindruckender Weise zugleich kontinuierlich und innovativ mit zunehmender nationaler und internationaler Ausstrahlung bis 2006 weiterentwickelt. Es gibt also keinen besseren Zeitzeugen für diese Entwicklungsgeschichte als ihn und man darf in dem Buch deshalb auch durchaus einen überzeugenden Beleg für eine große persönliche Erfolgsgeschichte sehen. Es bietet seinen Lesern einen Bericht, wie er authentischer gar nicht sein könnte, und lässt sich mit seinem großen, durch eine Vielzahl von Anmerkungen, Kurzportraits ausschlaggebender Persönlichkeiten und Gesprächsprotokollen noch weiter ausgedehnten Informationsreichtum zugleich auch als lehrreiches Nachschlagewerk benutzen.

Inzwischen spricht der erreichte Kenntnisstand immer klarer dafür, Kinder- sowie Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie wieder stärker einander anzunähern. Jedenfalls sollte die pragmatisch gezogene Altersgrenze zwischen den beiden Fachgebieten heute durchlässiger, mehr im Sinne einer „Transitionspsychiatrie“ gestaltet werden. Nur so kann es nämlich gelingen, für einige der schwerwiegendsten psychischen Störungen im Kinder- und Jugendalter die nötige vollumfängliche Weiterbehandlung auch im Erwachsenenalter zu sichern und umgekehrt für eine ganze Reihe der derzeit in der Regel erst im Erwachsenenalter erfassten großen psychischen Volkserkrankungen die bisher noch viel zu wenig beachteten Früherkennungs- und Frühbehandlungsmöglichkeiten schon im Jugendalter zu nutzen.

Fruchtbare Kooperation setzt aber sehr genaue wechselseitige Kenntnis voraus und es lässt sich kaum eine bessere und tiefere Informationsmöglichkeit über die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie denken als die Lektüre dieses Buchs. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann sie gerade auch den Lesern der „Fortschritte“, deren Interessenlage in der Erwachsenenpsychiatrie und Neurologie oder auch sonst in den klinischen Neurowissenschaften angesiedelt ist, nur ganz angelegentlich empfohlen werden.

Joachim Klosterkötter, Köln



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Article published online:
11 December 2020

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