Z Sex Forsch 2020; 33(04): 204-213
DOI: 10.1055/a-1284-9168
Originalarbeiten

Sexuelle Gesundheit in der Sexarbeit vor dem Hintergrund des Prostituiertenschutzgesetzes (ProstSchG): Einschätzungen von Berater*innen und Sexarbeiter*innen

Sexual Health in Sex Work against the Background of the Prostitutes Protection Act (ProstSchG): Perceptions of Counsellors and Sex Workers
Christine Körner
1   Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
,
Tzvetina Arsova Netzelmann
2   nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung, Berlin
,
Maia Ceres
3   Berufsverband für erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V., Berlin
,
Deborah Hacke
4   Fachbereich Soziale Arbeit.Medien.Kultur, Hochschule Merseburg
,
Elfriede Steffan
5   SPI Forschung gGmbH, Berlin (bis 2019)
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Einleitung Das 2017 in Deutschland in Kraft getretene Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) verlangt eine Pflichtberatung für Sexarbeitende, die nun zusätzlich zu den bereits bestehenden freiwillig wahrnehmbaren Angeboten auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) von den Gesundheitsämtern vorgehalten werden muss. Beide Angebotsformate überschneiden sich darin, dass sie dem Erhalt der sexuellen Gesundheit dienen sollen, unterscheiden sich aber in anderen Aspekten grundlegend (u. a. thematisch, Freiwilligkeit).

Forschungsziele Ziel der vorliegenden Pilotstudie war es zu erkunden, wie der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) die bestehenden gesundheitlichen Angebote und die neue ProstSchG-Pflichtberatung für Sexarbeitende organisiert, wie diese neue Angebotsstruktur von den Sexarbeitenden angenommen wird und wie sie insgesamt aus fachlicher Sicht zu bewerten ist.

Methoden Im Herbst 2019 wurden Interviews mit N = 11 Mitarbeitenden von Gesundheitsämtern, Fachberatungsstellen und Fachverbänden durchgeführt und zudem die Sichtweisen von N = 185 Sexarbeitenden mittels Online-Befragung eingeholt.

Ergebnisse Es zeigte sich, dass die noch im Prozess befindliche Umsetzung regional sehr unterschiedlich erfolgt und diverse Probleme aufwirft (z. B. durch fehlende Freiwilligkeit und fehlende Vertraulichkeit). Durch die neue Angebotsstruktur werden zahlreiche Sexarbeiter*innen nicht (mehr) erreicht. Diejenigen Sexarbeiter*innen, die die ProstSchG-Pflichtberatung absolviert haben, äußern teilweise deutliche Kritik (z. B. abschätzige Behandlung, fehlende Fachkompetenz für bestimmte Bereiche der Sexarbeit wie BDSM).

Schlussfolgerung Hilfebedürftige Sexarbeitende sind auf
die Angebote des ÖGD angewiesen. Der ÖGD sollte nach außen viel deutlicher machen, dass es für Sexarbeitende neben der ProstSchG-Pflichtberatung auch eine freiwillige und anonym wahrnehmbare Beratung mit medizinischer STI-/HIV-Diagnostik sowie teilweise zusätzliche psychosoziale Beratungsangebote gibt. Diese freiwillig und anonym wahrnehmbaren Angebote einschließlich der Beratung und der aufsuchenden Arbeit an Orten der Sexarbeit sind essenziell, um gerade vulnerable Sexarbeitende zu erreichen, ihre sexuelle Gesundheit zu fördern und sie in Not- und Krisenfällen zu unterstützen.

Abstract

Introduction The Prostitutes Protection Act (ProstSchG), which came into force in Germany in 2017, requires mandatory counselling for sex workers, which must now be provided by the health authorities in addition to the existing voluntary services based on the Infection Protection Act (IfSG). The two formats overlap in that they are intended to help maintain sexual health, but they differ fundamentally in other aspects (e. g. thematic, voluntary).

Objectives The aim of the present pilot study was to find out how the public health service (ÖGD) organises the existing health services and the new ProstSchG compulsory counselling for sex workers, how this new service structure is accepted by sex workers and how it is to be evaluated from a professional point of view.

Methods Interviews were conducted with N = 11 employees of health authorities, specialist counselling centres and professional associations, and the views of N = 185 sex workers were obtained by means of an online survey in fall 2019.

Results It was shown that the implementation, which is still in process, varies greatly from region to region and poses various problems (e. g. lack of voluntariness and lack of confidentiality). Due to the new supply structure, many sex workers are not (no longer) reached. Those sex workers who have completed the ProstSchG compulsory counselling express clear criticism (e. g. disparaging treatment, lack of expertise in certain areas of sex work such as BDSM).

Conclusion Sex workers in need of help are dependent on the offers of the ÖGD. The ÖGD should make it much clearer to the outside world that, in addition to the mandatory ProstSchG counselling, sex workers also have access to voluntary and anonymous counselling with medical STI/HIV diagnostics and, in some cases, additional psychosocial counselling services. These voluntary and anonymous services, including counselling and outreach work at sex work sites, are essential in order to reach vulnerable sex workers, promote their sexual health and support them in emergencies and crises.



Publication History

Article published online:
09 December 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Albrecht R. Beratungskompetenz in der Sozialen Arbeit. Auf die Haltung kommt es an!. Kontext 2017; 48: 45-64
  • 2 Alexander P. Sex Work and Health: A Question of Safety in the Workplace. J Am Med Womens Assoc 1998; 53: 77-82
  • 3 Altmann M, Nielsen S, Hamouda O, Bremer V. Angebote der Beratungsstellen zu sexuell übertragbaren Infektionen und HIV und diesbezügliche Datenerhebung in deutschen Gesundheitsämtern im Jahr 2012. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2013; 56: 922-929
  • 4 Benoit C, Jansson SM, Smith M, Flagg J. Prostitution Stigma and Its Effect on the Working Conditions, Personal Lives, and Health of Sex Workers. J Sex Res 2018; 55: 457-471
  • 5 Castañeda H. Structural Vulnerability and Access to Medical Care among Migrant Street-Based Male Sex Workers in Germany. Soc Sci Med 2013; 84: 94-101
  • 6 Doña Carmen e. V. Prostituiertenschutzgesetz schlägt Infektionsschutzgesetz.. Frankfurt/M.: Doña Carmen e. V.; 2019 Als Online-Dokument: https://www.donacarmen.de/prostituiertenschutzgesetz-schlaegt-infektionsschutzgesetz
  • 7 Döring N. Das neue Prostituiertenschutzgesetzt: Wie ist es aus fachlichen Perspektiven zu beurteilen? Eine Einführung. Z Sexualforsch 2018; 31: 44-56
  • 8 Heinz-Trossen A. Prostitution und Gesundheitspolitik. Prostituiertenbetreuung als pädagogischer Auftrag des Gesetzgebers an die Gesundheitsämter. Frankfurt/M.: Peter Lang; 1993
  • 9 Hill E, Bibbert M. Zur Regulierung der Prostitution: Eine diskursanalytische Betrachtung des Prostituiertenschutzgesetzes. Wiesbaden: Springer; 2019
  • 10 Körner C, Steffan E. Lebenslagen männlicher Sexarbeiter und HIV/STI-Prävention. Soziale Arbeit 2020; 2: 61-68
  • 11 Langanke H. Versorgung zur sexuellen Gesundheit unter dem Prostituiertenschutzgesetz – mehr Fragen als Antworten?. Z Sexualforsch 2018; 31: 77-86
  • 12 Lazarus L, Deering KN, Nabess R, Gibson K, Tyndall MW, Shannon K. Occupational Stigma as a Primary Barrier to Health Care for Street-Based Sex Workers in Canada. Cult Health Sex 2012; 14: 139-150
  • 13 Leopold B, Steffan E, Paul N. Dokumentation zur rechtlichen und sozialen Situation von Prostituierten in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart: Kohlhammer; 1994
  • 14 Mörgen R. In Beziehung treten: Etablierungsprozesse von Beratungs- und Arbeitsbeziehungen im Feld der aufsuchenden Sozialen Arbeit. Eine Ethnographie im Kontext der Prostitution. Weinheim, Basel: Beltz; 2020
  • 15 PartNet Netzwerk partizipative Gesundheitsforschung. Berlin: Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin; 2020 Als Online-Dokument: http://partnet-gesundheit.de/partnet-definition/
  • 16 Pates R. Liberal Laws Juxtaposed with Rigid Control: An Analysis of the Logics of Governing Sex Work in Germany. Sex Res Soc Policy 2012; 9: 212-222
  • 17 Platt L, Grenfell P, Meiksin R, Elmes J, Sherman SG, Sanders T, Mwangi P, Crago AL. Associations between Sex Work Laws and Sex Workers’ Health: A Systematic Review and Meta-Analysis of Quantitative and Qualitative Studies. PLoS Med 2018; 15: e1002680
  • 18 Probst U. Von käuflichem Sex, Opfern und Moral. Perspektiven von Sexarbeiterinnen auf Rechte, Sexualität und Professionalisierung im Arbeitsalltag in Berlin. Berlin: Weißensee; 2015
  • 19 Rogers CR. Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Frankfurt/M.: Fischer; 1991. [1951]
  • 20 Steffan E. Regulierung der Prostitution in Deutschland seit den 1980er-Jahren: Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück?. Z Sexualforsch 2020; 33: 214-220
  • 21 Steffan E, Arsova Netzelmann T. Aufsuchende Soziale Arbeit im Feld gesundheitlicher Angebote für Sexarbeiter*innen. Albert A, Wege J. Hrsg. Soziale Arbeit und Prostitution. Professionelle Handlungsansätze in Theorie und Praxis. Wiesbaden: Springer; 2015: 99-110
  • 22 Steffan E, Kavemann B, Arsova Netzelmann T, Helfferich C. Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung zum Bundesmodellprojekt „Unterstützung des Ausstiegs aus der Prostitution“. Berlin: BMFSJ; 2015. Als Online-Dokument: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/unterstuetzung-des-ausstiegs-aus-der-prostitution/80774
  • 23 Steffan E, Körner C, Arsova Netzelmann T. Abschlussbericht zum Projekt Bestandsaufnahme der Angebote der Gesundheitsämter in Deutschland für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Berlin: BMG; 2018. unveröffentlichter Abschlussbericht
  • 24 Steffan E, Rademacher M, Kraus M. Gesundheitsämter im Wandel. Die Arbeit der Beratungsstellen für STDs und AIDS vor dem Hintergrund des neuen Infektionsschutzgesetzes. Berlin: BMG; 2002. Als Online-Dokument: http://www.spi-research.eu/wp-content/uploads/2011/10/Gesundheitsämter-im-Wandel.pdf
  • 25 Stimson GV, Fitch C, Rhodes T. The Rapid Assessment and Response Guide on Substance Use and Sexual Risk Behaviour: Draft for Field Testing. Genf: WHO/UNAIDS; 1998
  • 26 Tanis N, Richter T. Soziale Arbeit mit Betroffenen von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung in Deutschland. Albert A, Wege J. Hrsg. Soziale Arbeit und Prostitution. Wiesbaden: Springer; 2015: 173-194
  • 27 Vorheyer C. Prostitution und Menschenhandel als Verwaltungsproblem. Bielefeld: transcript; 2010
  • 28 Vorheyer C. Zum professionellen Habitus der Sozialarbeiter*innen im Prostitutionsfeld: Betrachtung der sozialen Problemkonstruktionen und Interventionen aus einer körpersensibilisierten Perspektive. Soziale Probleme 2018; 29: 169-187
  • 29 Wege J, Albert M. Bedarfsanalyse und Konzeptentwicklung für eine Beratungsstelle im Bereich Prostitution für die Stadt Mannheim. Albert A, Wege J. Hrsg. Soziale Arbeit und Prostitution. Wiesbaden: Springer; 2015: 243-263
  • 30 Wright MT, Unger H, Block M. Partizipation der Zielgruppe in der Gesundheitsförderung und Prävention. Wright MT. Hrsg. Partizipative Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention. Bern: Hans Huber; 2010: 35-52