Allgemeine Homöopathische Zeitung 2020; 265(05): 3
DOI: 10.1055/a-1223-2761
Editorial

Symptom – Syndrom – Arzneimittelbild

Martin Stübler stellte in der AHZ 2 / 1966 die Frage, wie „wir unsere Arzneimittelbilder gliedern“ sollen: Schon damals nahm man zwar zur Kenntnis, dass der Begriff „Arzneimittelbild“ von J. T. Kent geprägt worden war, allerdings wurde darunter im Wesentlichen – im Zuge der Bearbeitung der Arzneimittellehren von Otto Leeser und Julius Mezger – eine systematische Darstellung und Gliederung der umfangreichen Symptomenreihen verstanden. Für den Nachwuchs wurde „einerseits eine klare Ordnung unserer Arzneimittelbilder, andererseits eine Weiträumigkeit, in der verschiedenartige Anschauungen Platz finden“, gewünscht.

Erst später wurde die Kritik am Begriff „Arzneimittelbild“ lauter: So sah beispielsweise Georg von Keller in der ZKH 5/1991 den Begriff eher kritisch, insbesondere in Zusammenhang mit den „Typen“ und „Essenzen“ von Arzneimitteln, die in die „Arzneimittelbilder“ mit eingegangen waren. Damit würde gewissermaßen einer Stereotypie in der Darstellung Vorschub geleistet, die zwar für Anfänger hilfreich sein kann; der fortgeschrittene Anwender müsse dann aber wieder „den Schritt vom feststehenden Arzneibild zur lebendigen Vielzahl der Einzelsymptome [gehen], die wir von den Patienten und von den Arzneimitteln erfahren“, so von Keller. Klaus Holzapfel legte in der ZKH 3 / 2002 sogar nahe, statt von „Arzneimittelbildern“ generell nur von „Materia medica“ zu sprechen, und begründete dies mit der ungünstigen Prägung des Begriffs durch Kent: Dieser habe mit seiner durch Swedenborg beeinflussten Lehre den „wissenschaftliche[n] Boden der Homöopathie verlassen, indem spekulative Elemente eingeführt wurden, um eine metaphysische Gründung der Homöopathie nachzuliefern“.

Diese sicher nicht unberechtigte Kritik ist bis heute nicht verhallt. Durch weitere medizinhistorische Arbeiten zu J. T. Kent (z. B. AHZ 2016) besteht mittlerweile die Möglichkeit einer besseren Einordnung dieser Thematik. Da der Begriff „Arzneimittelbilder“ aber nun einmal fest in der homöopathischen Diktion verankert ist, wurde im Kursbuch Homöopathie (2016) folgende Definition erarbeitet: „Im homöopathischen Arzneimittelbild (AMB) sind sämtliche für die Arzneifindung verwertbaren Informationen in didaktisch aufbereiteter Weise zusammengefasst, wobei das Wesentliche sowie charakteristische Grundstrukturen zum besseren Verständnis des Besonderen einer einzelnen Arznei herausgearbeitet sind.“ Hier hinein passen sogar Begriffe wie „Persönlichkeitsporträt“ (Willibald Gawlik) oder „Ebenbilder“ (Mathias Dorcsi), ohne dass dabei ein Widerspruch zur Reinen Arzneimittellehre Hahnemanns entstehen muss.

Im vorliegenden Heft zeigt Roger Rissel anhand einer historischen Krankengeschichte von 1826, dass schon damals die Mittelfindung nicht rein durch Abgleich einzelner Symptome vollzogen wurde, sondern bereits syndromal gedacht wurde und ein „Arzneimittelbild“ (Cicuta) erkennbar war. Jörg Hildebrandt führt seine Arbeit aus der AHZ 6 / 2013 fort und zeigt die Entwicklung von Prüfungssymptomen zum Arzneimittelbild unter Praxisbedingungen. Carl Rudolf Klinkenberg erläutert Grundsätzliches zum Symptomenbegriff und zu den Causa-Symptomen.

Eine wichtige Verbindung zwischen dem „Symptom“ und dem kompletten „Arzneimittelbild“ ist das „Syndrom“: Hierzu liefert uns Klaus Holzapfel einen hochinteressanten Beitrag, der die Bedeutung und Wandlung des homöopathisch verstandenen „Syndroms“ sehr gut nachvollziehen lässt und wichtige Bausteine zum Verständnis unserer Arzneimittellehren (z. B. Phatak, Boericke) liefert. Nur am Rande sei hierzu bemerkt, dass diese Denkweise auch Teilen der modernen konventionellen Medizin nicht fremd ist, wie beispielsweise der Psychiatrie; aber besonders auch die klinische Syndromologie, welche in der Pädiatrie beheimatet ist und sich mit der Diagnostik angeborener Syndrome beschäftigt, funktioniert sehr ähnlich, indem zunächst vorhandene Einzelsymptome betrachtet und bei zunehmender Erfahrung des Untersuchers – durch „suchendes Blättern“ in großen Kompendien (vgl. Arzneimittellehre!) – schließlich das Gesamtbild durch eine Mustererkennung erfasst werden kann.

Man bewegt sich gewissermaßen in einem Kontinuum von analytischer Beschreibung einzelner Merkmale (Symptome) hin zur synthetischen Mustererkennung des Syndroms, einmündend in das Arzneimittelbild, naturgemäß in unterschiedlichen Gewichtungen je nach verwendeter Methodik.

Christian Lucae



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Article published online:
16 September 2020

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