PiD - Psychotherapie im Dialog 2021; 22(02): 109-110
DOI: 10.1055/a-1215-1109
Resümee

Psychokardiologie

Eine Herzensangelegenheit

Es ist immer wieder eine neue und spannende Erfahrung, ein PiD-Themenheft herauszugeben. Was es in diesem Fall besonders spannend gemacht hat: Miterleben zu können, wie sehr sich dieses dynamische Feld in den letzten 10 Jahren weiterentwickelt hat – und zwar ebenso im Bereich der Forschung wie in der praktischen Umsetzung.

Kardiologische und psychotherapeutische Expertise sind nötig

Den Aufschlag machen Karoline Lukaschek und Karl-Heinz Ladwig mit ihrer aktuellen Übersicht zur Bedeutung psychosozialer Risikofaktoren wie Depression und Erschöpfung, Einsamkeit oder Konflikten am Arbeitsplatz für die Entstehung von Herz-Kreislauferkrankungen. Dabei arbeiten sie anhand von Fallbeispielen das Zusammenspiel mit den klassischen verhaltensbezogenen Risikofaktoren wie Rauchen, Bewegungsmangel und Adipositas heraus. Beide Konzepte ergänzen sich und helfen zu verstehen, warum bei vielen Patienten reine Präventionskurse zu kurz greifen. Psychotherapie kann in diesem Sinne individualisierte Prävention sein. Christoph Herrmann-Lingen stellt eindrucksvoll dar, wie sehr die psychokardiologischen Erkenntnisse bereits Eingang in die Leitlinien und Praxisempfehlungen zu Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gefunden haben. Deutlich wird aber auch, dass es bei der praktischen Umsetzung in der Routineversorgung noch viel Verbesserungspotenzial gibt. Der Beitrag von Christiane Waller zeigt, dass sich unser Verständnis der psychophysiologischen Zusammenhänge zwischen Stress und kardiovaskulären Erkrankungen in den letzten Jahren verändert hat: Neben den typischen Stresshormonen geraten dabei zunehmend auch die emotionsregulierten und bindungsbezogenen Systeme wie Oxytocin und Prolaktin ins Blickfeld. Ihr Resümee: „Herzpatienten benötigen für eine effektive psychokardiologische Mitbetreuung ein Gegenüber, das sowohl in der Kardiologie als auch in der Psychotherapie Expertise und Erfahrung erworben hat und bereit ist, trotz Restrisiko mutig mit dem Patienten in die Behandlung zu gehen.“

Eine Ermutigung zu dieser Expertise geben Aju Pazhenkottil et al. in ihrem Beitrag zur Differenzialdiagnostik von Herzbeschwerden: Sie ermutigen uns Psychotherapeut*innen, die kardiologische Vordiagnostik kritisch unter die Lupe zu nehmen und liefern uns das nötige Handwerkszeug dazu.


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Häufige und praxisrelevante Krankheitsbilder

Im Praxisteil findet sich eine Reihe von Beiträgen zu häufigen und praxisrelevanten psychischen oder kardiologischen Krankheitsbildern: Mary Princip zeigt, dass Herzerkrankungen auch als traumatisch erlebt werden und Traumafolgestörungen auslösen können. Pia Neiss und Cora Weber nähern sich dem häufigen Phänomen der herzbezogenen Ängste aus einer integriert psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Sichtweise und Hilka Gunold stellt mit dem Vorhofflimmern eine der häufigsten – und unter Psychotherapeut*innen immer noch eher unbekannte – Herzrhythmusstörung vor, bei der psychosoziale Faktoren v. a. für die Lebensqualität der Betroffenen eine entscheidende Rolle spielen. Das Tako-Tsubo-Syndrom ist zwar nicht so häufig, hat aber als oft psychisch ausgelöste und akut auftretende Herzinsuffizienz geradezu paradigmatischen Charakter für die Psychokardiologie. Hier stellen Eva Wimmer et al. einen psychodynamisch orientierten Zugang vor und präsentieren klinisch relevante und spannende Ergebnisse einer qualitativen Studie.

Sonja Wedegärtner und Ingrid Kindermann zeigen, dass das Thema Gender für die Psychokardiologie eine sehr praktische Bedeutung hat. Das Wissen um gendertypische Unterschiede erleichtert somit den Einstieg in eine bedarfsorientierte psychokardiologische Versorgung.

Ein für Psychotherapeut*innen immer noch eher ungewöhnliches Arbeitsfeld ist die Herzchirurgie. Die besondere Situation der Patienten dort verlangt nach kurzfristig einsetzbaren und schnell wirksamen psychotherapeutischen Interventionen. Katharina Tigges-Limmer zeigt hier das Potenzial eines hypnotherapeutischen Vorgehens praxisnah und mit zahlreichen Formulierungsbeispielen auf.

Eine wertvolle und inzwischen gut evidenzbasierte Ressource sowohl in der Behandlung kardialer als auch psychischer Krankheitsbilder sind Ausdauertraining und Bewegungstherapie. Judit Kleinschmidt und Volker Köllner geben einen Überblick sowohl über die Befundlage – Ausdauertraining wirkt ähnlich gut antidepressiv wie ein Antidepressivum – als auch über die praktische Integration von Bewegungstherapie in Klinik und Praxis, hier z. B. mithilfe der ambulanten Herzsportgruppen.


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Umsetzung in verschiedenen Settings

Abgerundet wird der Praxisteil von Einblicken in die Umsetzung der Psychokardiologie in verschiedenen Settings. Auch hier ist in den letzten 10 Jahren viel Neues entstanden. Constantin Puy et al. beschreiben die Implementierung der klinischen Psychokardiologie am Allgemeinkrankenhaus, während Eike Langheim et al. ein neues, fächerintegrierendes Konzept der psychokardiologischen Rehabilitation vorstellen. Boris Leithäuser beschreibt wie sich die Perspektive auf die Patienten und die eigene Tätigkeit wandelt, wenn man vom invasiv tätigen Kardiologen zum ärztlichen Psychotherapeuten wird. Wir freuen uns besonders, dass wir einen Beitrag aus der Selbsthilfe gewinnen konnten: Anja Wilde und Helmut Bundschuh stellen die Initiative „Herz ohne Stress“ vor, die ausgebend von einem lokalen Schwerpunkt in München gerade dabei ist, ein bundesweites Netz an psychokardiologischen Selbsthilfegruppen aufzubauen.


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Psychokardiologie geht auch ambulant

Das Schlusswort gehört in diesem Heft einer Praktikerin: Denise Lenski betreibt seit etwa 10 Jahren eine psychotherapeutische Praxis mit psychokardiologischem Schwerpunkt in Saarbrücken. Im Interview berichtet sie, wie es möglich ist, auch ohne das sofort verfügbare kardiologische Backup einer Klinik mit Herzpatienten therapeutisch zu arbeiten. Ihre Erfahrungen machen Mut, mehr Psychokardiologie in der Praxis zu wagen und unseren Blick auf das Herz unserer Patienten und die Faktoren, wie sie dieses gesund erhalten können, zu erweitern.

Was uns aufgefallen ist: Nahezu alle Beiträge für dieses Heft sind umfangreicher als geplant, die Mehrzahl enthält lebendige Fallgeschichten und fast alle Beiträge trafen etwas vor dem Termin bei uns ein. Wir denken, dies ist ein Zeichen dafür, dass unsere Autorinnen und Autoren wirklich mit dem Herzen bei diesem Thema sind. Nun ist der Ball in unserem Feld – wie setzen wir dieses neue Wissen über die Zusammenhänge zwischen Herz und Seele in unserer therapeutischen Praxis um?

Herzliche Grüße

Barbara Stein
Volker Köllner


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Publication History

Article published online:
26 May 2021

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