Der Klinikarzt 2020; 49(06): 233-235
DOI: 10.1055/a-1167-7218
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Covid-19 hat uns alle kalt erwischt

Matthias Leschke
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Publication Date:
29 June 2020 (online)

An die letzte Pandemie, die spanische Grippe, erinnern wir uns mit Schrecken. Diese Pandemie kostete 1918/1919 bis zu 50 Millionen Todesopfer! Wir befürchteten bei der Corona-Pandemie das Schlimmste! Doch die große Lawine an Covid-19-Toten blieb aus. Die hektisch eingerichteten Corona-Intensivbetten blieben weitgehend verwaist. Und das Wunder geschah: Die sonst notorisch überlaufenen Notaufnahmen der Kliniken blieben leer. Myokardinfarkte, Schlaganfälle, Blinddarmentzündungen, das alles gab es nicht mehr. Die Regierungsverlautbarungen und die öffentlich-rechtliche Rundum-Corona-Berichterstattung im Fernsehen hielten das Volk fern der Krankenhäuser. Nur wer ein Viruskratzen im Hals zu verspüren meinte, Fieber und Husten hatte, wurde zum Abstrich in die Corona-Ambulanzen ermuntert. Die Betten in den Nicht-Corona-Stationen blieben leer. Gynäkologen, Augenärzte, Kardiologen, Chirurgen jeglicher Couleur hätten Kurzarbeit beantragen können. Deutschlands Kliniken harrten der Coronakranken. Der Ansturm blieb aus. Gott sei Dank!

Der Corona-Feldzug der Regierung wurde perfektioniert. Quarantäne nach dem Gießkannenprinzip! Und man versäumte es, den Menschen wirklich klarzumachen, weshalb solche Maßnahmen inklusive einer Maskenpflicht (über deren Sinn man an höchster Stelle stritt) unverzichtbar seien. Per Dekret wurde jegliches soziale und wirtschaftliche Leben unterbunden. Apotheken, Supermärkte, Baumärkte und die Post waren ausgenommen. Weil systemrelevant, hieß es. In den täglichen Pressekonferenzen konnte Gesundheitsminister Spahn mit seinem RKI-Präsidenten Lothar Wieler den obersten Gesundheitshüter der Deutschen geben (wobei Bayernpremier Söder ihn ziemlich schnell in die Ecke drängte). Alles gut? Nichts gut!

Das RKI entwickelte, wie schon erwähnt, Anfang 2017 einen Pandemieplan. Adressat: die Bundesregierung. Konkret: der Gesundheitsminister. Leider interessierten die glasklaren Empfehlungen zur Vorbereitung auf eine künftige und als sehr realistisch eingeschätzte Influenzapandemie keinen der Verantwortlichen. Das RKI empfahl dringend, ausreichend Atemschutzmasken und Schutzbekleidung anzuschaffen. Nun, die Politiker trieb anderes um. Etwa der Machterhalt von CDU/CSU, die Kanzlerfrage. Und dann war Covid-19 angekommen. Gesundheitsminister Spahn wiegelte zuerst einmal ab. Alles halb so wild. Wir sind bestens aufgestellt. War die Regierung aber nicht. Sie gab eine Komödie, um für Krankenhäuser und Praxen Masken und Schutzausrüstung zu beschaffen. Die Lager waren leer. Und blieben es auch lange. Die Beschaffungsbürokratie des Gesundheitsministeriums versagte jämmerlich. Schließlich nutzten große Unternehmen wie Porsche ihre internationalen Beziehungen und schafften Schutzausrüstungen her.

Derweilen impfte man dem Volk ein, um Gotteswillen Arztpraxen und Kliniken zu meiden. Aufschiebbare Operationen, wer kann das beurteilen, wurden untersagt. Tumorpatienten waren plötzlich elektive Fälle. Noch skandalöser: Das Todesurteil für Wirtschaft, Selbstständige und Künstler. Das umfassende Kontaktverbot fürs Volk. Die Isolation der Alten in ihren Heimen. Die verordnete Einsamkeit der Sterbenden. Offenbar hat man den Menschen Panikgefühle vermittelt und zwar dergestalt, dass sie sich nicht einmal mehr in Hausarzt- und Facharztpraxen getrauen. Von einem Patientenschwund bis zu dreiviertel der bisherig gewohnten Zahlen ist die Rede.

Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Populisten sahen ihre Stunde gekommen, die Maßnahmen der Regierung als Volksverdummung zu diskreditieren (Natürlich wird ohne Mundschutz und Sicherheitsabstand demonstriert). Corona als Vorwand, um sich das Volk untertan zu machen. Die Seuche, die keine ist, als Türöffner zu neuer Vorherrschaft der Eliten. Der Kapitalisten und Juden. Der Bill Gates. Konsequent ignoriert man bei den Massendemos sämtliche Sicherheitsmaßnahmen. Das ist fatal. Doch wie konnte es so weit kommen? Hat doch unsere Regierung alles richtig gemacht! Die Zahlen unserer Todesfälle weitaus geringer vor der Katastrophenkulisse Italiens, Spaniens und der USA! (Und dabei wissen wir nicht einmal oder wollen es nicht wissen, ob die Todesfälle tatsächlich Covid-19-Opfer sind oder ob sie, hochbetagt und multimorbid, mit der Infektion verstorben sind und nicht an ihr?)

Wozu haben wir die klügsten Köpfe in Regierung und Administration? Warum hat man sich nicht vorbereitet auf ein solches Szenario? Bei den ersten Corona-Fällen hätten LKWs mit Tonnen von Schutzausrüstung in Richtung Kliniken und Praxen rollen müssen! Und dann reflektierte Maßnahmen, um die Infektion in den Griff zu bekommen! Die App für das Tracing der Infizierten existiert heute noch nicht! Warum Geschäfte schließen? Weshalb kann man nicht zu zweit außer in Apotheken auch in Blumenläden einkaufen? Hätte man auf die Pandemie von Beginn an mit Intelligenz und weniger Hysterie reagiert und so das Risiko ruinöser Maßnahmen vermieden, wären die Folgen für Wirtschaft, Staatsfinanzen und die Menschen erträglicher ausgefallen.

Es steht zu befürchten, dass wir die Chance vertan haben. Jetzt ist die Stunde der Populisten, Verschwörungstheoretiker, Querulanten und Chaoten angebrochen. Natürlich liegen sie mit ihren nahezu debilen Ansichten krass daneben, aber unzählige Bürger, welche durch die unbedachten radikalen Corona-Maßnahmen wirtschaftlich und psychisch ruiniert wurden, werden wohl oder übel getreue Gefolgsleute der Agitatoren sein.

Covid-19 ist kein Fake. Covid-19 ist eine bösartige Infektionskrankheit. Wenn sich bei Demos (und wir werden noch weitere kriegen!) tausende ohne Schutzmaßnahmen zusammenrotten, wird die Pandemie künftig ziemlich hässlich ausfallen. Dann aber lassen sich die Massen nicht mehr so leicht wegsperren. Ob wir da mit einem blauen Auge aus dem Corona-Schlamassel rausfinden?