Zeitschrift für Phytotherapie 2020; 41(04): 157-158
DOI: 10.1055/a-1150-9330
Editorial

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Leserinnen und Leser unserer Zeitschrift,

Wenn allein in Deutschland 50 000 Operationen, darunter angeblich auch aus onkologischen Indikationen, verschoben wurden, viele vielleicht für immer unterblieben sind, wenn Kardiologen von deutlich weniger Rettungsstellenfällen wegen Angina pectoris bzw. gesicherten Myokardinfarkten berichten, wie ist es der Phytotherapie in der ja offenbar noch lange nicht abgeschlossenen ‚Corona-Krise‘ bislang ergangen? Das wird leider nicht unter die wichtigen Forschungsziele fallen, die sich Sozialmediziner und Epidemiologen setzen, wenn sie die medizinischen Kollateralschäden der Corona-Krise untersuchen. Während die Selbstmedikation vermutlich wenig gelitten hat, im Internetbezug womöglich zulegen konnte, dürfte die beratene Verordnung durch Apotheker oder Ärzte aufgrund ausgebliebener Besuche erheblich zurückgegangen sein.

Aber auch der wissenschaftliche Diskurs ist nicht mehr derselbe: Wie weit elektronische Kommunikation, Distanzwahrung, Verständnisunsicherheiten den akademischen Prozess beeinflussen können, wird man sicher erst durch sehr gründliche Forschung und mit einem gewissen zeitlichen Abstand beurteilen können. Medizinische Wissenschaften, so auch die Phytotherapie, sind nicht mit der Fußball-Bundesliga vergleichbar, wo trotz aller Unken auch ohne Zuschauer spannende Spiele und spektakuläre Tore im Fernsehen zu sehen waren.

So wird auch die Phytotherapie nicht messbare Verluste bzw. Verzögerungen ihrer Entwicklung davontragen. Verschiedene Konferenzen wie die tetranationale zur Phytotherapie in Zürich im Juni 2020 oder die internationale in San Francisco im Juli 2020 (‚GA‘-Tagung) wurden um 2 Jahre verschoben bzw. ersatzlos gestrichen. So erlauben wir uns, knapp ein Jahr später einen Bericht von der letzten internationalen Anwesenheitskonferenz zu Arzneipflanzen aus September 2019 zu bringen. Zusätzlich war diese GA-Konferenz eine sehr große, qualitativ außerordentlich hochwertige und bislang kaum berichtete Veranstaltung (s. S. 193). Eine Reminiszenz einer früheren Epoche?

Auch das vielzitierte Homeoffice – die direkte deutsche Übersetzung ‚Heimbüro‘ hat offenbar zu viel schlechte Konnotation zu ‚Heimarbeit‘ – wird insbesondere dort Qualitätseinbußen für das Endprodukt mit sich bringen, wo kollektive Arbeitsprozesse wie in einem Verlag der Standard waren. Falls Sie Anhaltspunkte dafür in unserer wie in Ihren weiteren Zeitschriften derzeit finden, bitten wir das zu entschuldigen. Viele große Arbeitgeber bitten auch jetzt im Spätsommer 2020 ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, so weit wie möglich daheim zu arbeiten. Einige Fakultäten legen ihren Mitarbeitern ein Reiseverbot auf.

Worüber kann man im Corona-Jahr fachlich berichten? Wir haben den Schwerpunkt erneut – übrigens in einer Redaktionskonferenz lange vor dem Auftauchen von SARS-CoV-2 – auf Infektionskrankheiten gelegt.

Es ist zu vermuten, dass traditionell genutzte Pflanzen gerade Wirkqualitäten im Bereich von Infektionskrankheiten aufweisen, da sich die Menschheit damit schon immer auseinandersetzen musste, jedenfalls lange vor Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes, Depressionen, Erschöpfungssyndromen u.v. a. m. Die Kunst besteht darin, aus der Fülle von Hinweisen die besten Kandidaten aufzustöbern, ihre Phytochemie und präklinische Wirksamkeit zu dokumentieren und dann klinische Studien zu unternehmen. Ein gutes Beispiel aus Benin stellen wir in diesem Heft vor (Beitrag Marquardt, S. 170).

Natürlich sind auch in der europäischen Therapiegeschichte viele solcher Indikationen beschrieben, z. T. natürlich auch umschrieben. Unter dem verheißungsvollen Untertitel ‚Historische Streiflichter auf Knoblauch, Zwiebeln und Kapuzinerkresse‘ stellt Ihnen unser Autor wichtige vor (Beitrag Niedenthal, S. 165).

Nach einem ersten Beitrag in Heft 2-2020 (Hensel, Spiegler, Kraft, S. 52–54) nehmen wir erneut Stellung zu den Möglichkeiten der Phytotherapie zu Problem No. 1 (Beitrag Uehleke, Stange, S. 160). realisierend, dass es hier doch eines längeren Atems bedarf.

Was wäre ein Schwerpunkt zu Infektionen ohne die Linde? Als vielleicht kleine Überraschung zu diesem Thema empfehlen wir Ihnen einen Beitrag zum Verständnis der umstrittenen Gemmotherapie aus der Silberlinde. Hier werden Grundlagendaten präsentiert, die gewohnte und neue Einsatzmöglichkeiten ihrer Blattknospen möglich erscheinen lassen (Beitrag Appel S. 177).

Cannabinoide sind mittlerweile ein festes Thema auch in der konventionellen Medizin geworden. Angesichts der zunehmenden Praxis mit isolierten Bestandteilen, insbesondere Cannabidiol (CBD) in zahlreichen Darstellungsformen sowie Tetrahydrocannabinol (THC), zählen einige Kolleginnen und Kollegen diese Nutzung nicht mehr zur Phytotherapie. Es gibt aber weiterhin auch interessante Aspekte für Cannabis–Extrakte. Das Thema muss derzeit offenbleiben, wir freuen uns, Ihnen einen kompetenten Übersichtsartikel über klinische Anwendungen bringen zu können (Beitrag Chrubasik, S. 182).

Viele Anregungen beim Lesen wünscht Ihnen

Rainer Stange



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. September 2020

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