Nervenheilkunde 2020; 39(07/08): 444-451
DOI: 10.1055/a-1134-8996
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Corona-Kollateralschäden: Informationen, Demonstrationen und Operationen

Manfred Spitzer
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Publication Date:
04 August 2020 (online)

Nach mehr als 4 Monaten Pandemie ist weiterhin kein Ende in Sicht. Im Gegenteil: Weltweit nimmt das Infektionsgeschehen etwa seit Mitte Mai wieder an Fahrt auf, nachdem es im April einen Übergang vom exponentiellen in ein nur noch lineares Wachstum gegeben hatte ([ Abb. 1 ]). Dieser Hoffnungsschimmer ist mit weltweit 150 000 Neuinfektionen pro Tag (erstmals am Donnerstag 18.6.2020) [8] vorüber. Das Zentrum der Pandemie ist mittlerweile vom Osten Chinas über Europa hinweg zum amerikanischen Kontinent gewandert, wo das Virus SARS-CoV-2 aufgrund vielfacher Fehleinschätzungen zweier völlig unfähiger, krankheitsuneinsichtiger, populistisch-konservativer Machthaber, im Norden Trump und im Süden Bolsonaro, zu erschreckenden Zahlen von Infizierten und Toten geführt hat. Das ist kein Zufall, denn das Virus deckt gnadenlos die Schwächen von Gesellschaftssystemen auf, in denen die Menschen unter Bedingungen leben müssen, die nicht nur menschenunwürdig sind, sondern tödlich, sobald eine Zusatzbelastung eintritt.

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Abb. 1 Screenshot des Dashboard der Johns-Hopkins-University vom 29.6.2020. Mit mehr als 10 Millionen Infizierten und mehr als einer halben Millionen Toten nimmt die Pandemie weiter ungebrochen und mittlerweile wieder beschleunigend ihren Lauf, wie die Kurve der weltweiten Neuinfektionen über die Zeit hinweg rechts unten zeigt. Ein Vergleich zu früheren Dashboards vom 6.4.2020 [23] oder vom 18.5.2020 [24] lohnt sich und zeigt die Dramatik der Situation – gerade jetzt, wo hierzulande alle denken, es sei im Grunde vorbei (Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/).

Mit mehr als 2,5 Millionen Infizierten und mehr als 125 000 Todesfällen insgesamt sind die USA seit langer Zeit trauriger Spitzenreiter beim pandemischen Geschehen – Tendenz steigend. Am 28.6.2020 lag die Zahl der Neuinfektionen in den USA bei 44 782, und damit am fünften Tag in Folge jeweils höher als am Vortag [12]. Die Lage dort je nach Ort sehr unterschiedlich ([ Abb. 2 ]): Städte wie New York scheinen das Schlimmste hinter sich zu haben, befürchten jedoch eine „zweite Welle“. In Florida, Texas, Arizona, New Mexiko, Kalifornien, Utah und Oregon wird die Aufhebung des Lockdowns verschoben oder der Lockdown teilweise wieder eingeführt. So wurden beispielsweise Ende Juni die Bars in Texas und Florida wenige Wochen nach ihrer Wiedereröffnung erneut geschlossen. In Texas nahmen die Corona-bedingten stationären Aufnahmen über die letzten 16 Tage täglich zu, mit 5523 stationär behandelten Covid-19-Fällen am 28.6.2020. Die Intensivstationen des Texas Medical Center waren zu diesem Zeitpunkt zu 100 % ausgelastet [22], [28]. In vielen eher ländlichen Regionen stieg erst Anfang Juni die Zahl der Infektionsfälle: Alaska, Arizona, Arkansas, Kalifornien, Florida, Kentucky, New Mexico, North Carolina, Mississippi, Oregon, South Carolina, Tennessee, Texas und Utah [17]. Dort hat man also den Höhepunkt der „ersten Welle“ noch vor sich.

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Abb. 2 Verlauf der Covid-19-Todesfälle in verschiedenen Regionen der USA (14-Tage-Durchschnitt) (nach Daten aus [28]). In den großen Städten geht es abwärts, auf dem Lande hingegen aufwärts, wobei der Trend im Juni noch wesentlich deutlicher wurde.

Die erste Pandemie des 21. Jahrhundert wird von uns nach wie vor hauptsächlich mit Maßnahmen aus dem 14. Jahrhundert bekämpft: Hände waschen und Distanz halten. Aber es gibt Hoffnung: Das Blutplasma von zuvor an Covid-19 erkrankten Menschen kann schwer Erkrankten helfen [4], [15], der Ausgleich von Vitamin-D-Mangel wahrscheinlich auch [32]. Für einige Medikamente – Blutverdünner (Heparin [20]), Virostatika (Remdesivir [2], [7] und Entzündungshemmer (Dexamethason [13]) – liegen mittlerweile positive Erfahrungen sowie neue Erkenntnisse zum Wirkungsmechanismus vor: Das Virus verursacht nicht nur eine schwere Infektion der Lunge, sondern auch eine überschießende Blutgerinnung und Entzündungsreaktion, auch an den Innenwänden von Blutgefäßen (Endothelialitis [1], [26]). Meinte man noch im April, dass Corona-positive Patienten, die einen schweren Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden, nicht an Corona, sondern „nur“ mit Corona verstorben sind, so wissen wir mittlerweile, dass auch Menschen mittleren Alters (in ihren 30ern und 40ern) davon betroffen sein können – als Folge von Corona. Das Durchschnittsalter von Schlaganfallpatienten liegt „normalerweise“ bei 76 Jahren [19]. Weiterhin wurde zwischenzeitlich deutlich, dass das Virus neben der Lunge auch das Herz, die Nieren, das Gehirn, den Darm (auch das Microbiom) und die Bauchspeicheldrüse (Diabetes!) betreffen kann, samt diese Organe betreffende chronische Syndrome [10], [33].

Wir kennen das Virus SARS-CoV-2 also immer besser und können die von ihm verursachte Krankheit Covid-19 immer besser behandeln. Zudem hat sich gezeigt, dass man die Corona-Krise in keinem Land der Welt mit besseren Chancen zugebracht haben konnte als in Deutschland, vielleicht abgesehen von Neuseeland: Nimmt man verschiedenen Indizes für ein gutes oder schlechtes Abschneiden (Funktion des Gesundheitssystems, Anzahl der durchgeführten Tests, Anzahl der überzähligen Todesfälle, etc.) zusammen, dann landet Deutschland im Vergleich mit 20 anderen Ländern der OECD auf Platz 2 ([ Abb. 3 ]) [27]. Nach einer im Fachblatt Nature publizierten Studie zeigen entsprechende Modellierungen, dass die Maßnahmen des Lockdowns uns bis zum 4.5.2020 in Deutschland allein 530 000 Todesfälle, und europaweit 3100 000 Todesfälle, erspart haben [9].

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Abb. 3 Globales Ausmaß des Risikos durch Covid-19 im Vergleich von 200 Ländern. Deutschland liegt sehr gut im grünen Bereich (nach Daten aus [5]).

Zugleich wird jedoch ebenfalls deutlich, dass unser Umgang mit der Pandemie Kollateralschäden zur Folge hatte, die durch die Pandemie und unsere Reaktionen darauf, nicht aber direkt durch das Virus, verursacht wurden – von sinnlosen vor allem über das Internet verbreiteten Verschwörungstheorien bis zu den sinnvollen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie –, die uns noch sehr lange betreffen und wissenschaftlich beschäftigen werden. Ein Beispiel aus der Vergangenheit mag dies verdeutlichen: Der Ebola-Ausbruch in Westafrika in den Jahren 2014–2015 hatte nach heutigem Stand 11 316 Todesfälle zur Folge. Hinzu kommen jedoch weitere 10 623 Todesfälle durch andere Erkrankungen (vor allem Tuberkulose, Malaria und HIV-AIDS), die aufgrund einer etwa 50 %igen Reduktion des Zugangs zu medizinischen Ressourcen weniger effektiv behandelt werden konnten. Anhand der vorhandenen Daten aus den damals hauptsächlich betroffenen westafrikanischen Ländern wurde geschätzt, dass es in Sierra Leone 2819 (CI: 8,44–48,44), in Liberia 1535 (CI: 5,22–28,78) und in Guinea 6269 (CI: 2,564–12,407) zusätzliche Todesfälle durch die 3 Erkrankungen gegeben hat [21]. Damit verursachte die Ebola-Epidemie nahezu ebenso viele indirekte Todesfälle wie direkte Tote durch das Ebola-Virus. Weltweit sind vom Coronavirus mehr als 10 Millionen Menschen betroffen. Von der Pandemie hingegen sind nahezu alle Menschen in irgendeiner Form betroffen oder werden noch betroffen sein.[ 1 ] Vom Lockdown in der Pandemie waren immerhin etwa 2,6 Milliarden Menschen, also 260-mal mehr als Coronainfizierte Menschen, betroffen.