Nervenheilkunde 2020; 39(04): 253
DOI: 10.1055/a-1120-9170
Gesellschaftsnachrichten
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.

Tom Bschor
,
Anja M. Bauer
Further Information

Publication History

Publication Date:
02 April 2020 (online)

Über Leben und Werk Wilhelm Griesingers

Im vergangenen November sprach Prof. Dr. Michael Seidel bei der BGPN über Werk und Leben Wilhelm Griesingers. Prof. Michael Seidel arbeitete von 1977–1991 in Griesingers ehemaliger Wirkstätte, der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité Berlin. Von 1991–2010 war er leitender Arzt und Geschäftsführer in den von Bodelschwinghschen Anstalten/Stiftungen Bethel, von 2011–2014 ärztlicher Direktor im Stiftungsbereich Bethel in Bielefeld.

‚… die großen Gedanken kommen aus dem Herzen…’

Wilhelm Griesinger, 1817 in Stuttgart geboren, begann sein Medizinstudium 1834 in Tübingen und war dort auch Mitglied in einer demokratischen Burschenschaft. Wegen eines Konflikts mit dem Lehrkörper musste er sein Studium für ein Jahr pausieren und setzte es schließlich in Zürich fort. Für Examina und Promotion kehrte Griesinger nach Tübingen zurück. In den Jahren 1840/41 machte er erste Erfahrungen in der Psychiatrie als Assistent in Winnenthal. Es folgten nicht psychiatrische Anstellungen in Paris, Wien und Stuttgart, wo er sich schließlich 1843 habilitierte. Im Jahr 1849 wurde Griesinger Direktor der Poliklinik in Kiel. Wegen ungünstiger Umstände dort nahm er wenig später die Einladung des ägyptischen Vizekönigs Abbas Paschas an, in Kairo die Leitung der medizinischen Ausbildung und die Leitung der Medizinalkommission und die Aufgabe des Leibarztes des Vizekönigs zu übernehmen.

Nach seiner Rückkehr wandte sich Griesinger erst 1859 wieder der Psychiatrie zu. Er zeigte deutliches Interesse an der Förderung der Gesundheit der städtischen Bevölkerung und der Planung eines modernen psychiatrischen Krankenhauses – der Klinik Burghölzli in Zürich, die 1865 eröffnete. Nach anfänglichen Bedenken aufgrund seiner geringen klinischen Erfahrung in der Psychiatrie trat Griesinger am 1. April 1865 sein Amt als ‚Dirigierender Arzt an der Abteilung für Gemüthskrankheiten und für Nervenkrankheiten an der Königlichen Charité’ an. Durch die von ihm als Bedingung seines Kommens verlangte Zusammenführung von Psychiatrie und Neurologie begründete er eine langjährige Tradition in Deutschland. Im Jahr 1867 gründete Griesinger gemeinsam mit 9 Kollegen in Berlin die ‚Berliner medicinisch-psychologische Gesellschaft’ – unsere heutige Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie. Schon ein Jahr später starb er an einer perforierten Appendizitis.

Griesingers wesentliche Vorstellungen zur Psychiatrie beinhalteten als erstes, dass der spekulative Zugang der romantischen Medizin und Naturphilosophie dem naturwissenschaftlichen weichen musste. Er beschrieb das Gehirn als Sitz des ‚Irreseins’, somit waren psychische Krankheiten Erkrankungen des Gehirns hauptsächlich psychischen, dann aber auch somatischen und gemischten Ursachen. Simpler materialistischer Reduktionismus war ihm fremd. Psychische Krankheiten waren in seinen Augen Krankheiten wie andere Krankheiten auch. Nicht zuletzt deshalb musste die Psychiatrie aus ihrer fachlichen Isolation herausgelöst, an der Universität gelehrt und in die Medizin eingegliedert werden.

Griesinger war aber weit mehr als der Begründer einer modernen biologischen Psychiatrie. Er machte Vorschläge zur Versorgungsstruktur und hatte bezüglich der Behandlungsmodalitäten moderne sozialpsychiatrische Vorstellungen. Das Kriterium heilbar/unheilbar, nach dem die Kranken der Therapie oder der lediglichen Verwahrung zugeordnet wurden, sollte verworfen werden. In Abhängigkeit von der Behandlungsdauer sollten neben den großen, fernab gelegenen Anstalten auch wohnortnahe ‚Stadtasyle’, ‚klinische Asyle’, ‚agricole Kolonien’ und familiale Pflegeangebote eingerichtet werden. Schließlich sollte die freie Behandlung die Anwendung von Zwangs mitteln ablösen. Mit seiner Idee einer nicht nur ärztlichen Behandlung, sondern einer Ausweitung der Therapie auf die Bewegungs- und Sinnesorgane und Tätigkeiten des alltäglichen Lebens war er Wegbereiter moderner ergo- und physiotherapeutischer Konzepte. Griesingers Biographie und Werk verdeutlichen: Dank seiner intellektuellen Flexibilität und trotz seines streitbaren, wohl oft auch schroffen Charakters errang er anspruchsvolle berufliche und einflussreiche fachpolitische Positionen. Er konnte Gleichgesinnte um sich scharen sowie Psychiatrie und Neurologie wichtige Impulse vermitteln. Griesinger war ein Visionär, der in manchem seiner Zeit weit voraus war.

Zoom Image
Wilhelm-Griesinger-Büste an der Charité Berlin (Quelle: privat)