Geburtshilfe Frauenheilkd 2020; 80(05): 477-479
DOI: 10.1055/a-1116-3953
GebFra Magazin
Geschichte der Gynäkologie
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Vergessene und verdrängte Geschichte – Teil 2

Von der Gründung der Universitäts-Frauenklinik Königsberg 1844 bis zu ihrem Untergang 1945
Andreas D. Ebert
,
Matthias David
Further Information

Publication History

Publication Date:
18 May 2020 (online)

Die Geschichte des königlichen Hebammen-Institutes im ostpreußischen Königsberg von 1793 bis 1844 wurde bereits kürzlich beschrieben [1]. 1844 erfolgte im Rahmen des 300-jährigen Gründungsjubiläums der Albertus-Universität die strukturelle Umwandlung des außeruniversitären „Entbindungs- und Hebammen-Instituts“ in eine reguläre Universitätsklinik [2], [3]. Der zuständige Extraordinarius der Entbindungskunst und Direktor des Hebammen-Institutes, Albert Hayn (1801 – 1863), wurde – später als die meisten seiner deutschen Amtsgenossen – zum ordentlichen Professor der medizinischen Fakultät befördert [4], [5], [6]. Hayn, wissenschaftlich eher zurückhaltend, aber als Lehrer und Kollege anerkannt, führte die Gynäkologie in die klinischen Vorlesungen und die Patientinnenvorstellung in den Studentenunterricht ein [5]. Er wurde 1861 zum Rektor der Universität Königsberg gewählt [5]. Nach Hayns Tode erging der Ruf der Fakultät an Otto Spiegelberg (1830 – 1881), während Hayns Assistent und Schwiegersohn, der 1862 habilitierte Hugo Hildebrandt (1833 – 1882), die Klinik kommissarisch leitete [3]. Spiegelberg folgte schon im Herbst 1865 dem Ruf an die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau [7]. Hugo Hildebrandt wurde nun zum Professor ordinarius berufen: „Ein sehr gesuchter und beliebter Arzt, ein trefflicher Lehrer, ein ausgezeichneter Kollege …“, wie Franz v. Winckel (1837 – 1911) ihn charakterisierte [8]. Unter seiner Leitung entstand die damals modernste Frauenklinik Deutschlands [9]. Hildebrandt wurde Rektor der Albertus-Universität und gab u. a. ein preußisches Hebammen-Lehrbuch heraus [5]. Nach seinem frühen Tod erfolgte die Berufung Rudolf Dohrns (1836 – 1915) aus Marburg, der als Credé-Schüler die Hebammenausbildung stark förderte, das preußische Hebammen-Lehrbuch (1892) herausgab und mit seinem Buch zur Geschichte der Geburtshilfe Bleibendes schuf [10]. Er führte in der Klinik u. a. das sog. Internat für Studenten ein. Mit 61 Jahren musste Dohrn wegen einer Erkrankung den Königsberger Lehrstuhl räumen. Vor und nach Rudolf Dohrn leitete der Gynäkologe Hermann Münster (1847 – 1905) kommissarisch die Klinik [5], [11]. Die Fakultät stellte eine Dreier-Liste auf (1. Hermann Löhlein aus Gießen, 2. Alfons von Rosthorn aus Prag und 3. Ernst Bumm aus Basel), doch der Ministerialdirektor im preußischen Kultusministerium, Friedrich Althoff (1839 – 1908), oktroyierte den Königsberger Ordinarien einen anderen auf, nämlich Georg Winter (1856 – 1946), einen Schüler von Robert von Olshausen (1835 – 1915) aus der Berliner Universitäts-Frauenklinik [11]. Winter führte die Königsberger Klinik durch die Zeit des Kaiserreiches, des Ersten Weltkrieges und die schweren Weimarer Anfangsjahre zu wissenschaftlicher und klinischer Blüte. Er gründete eine eigene klinische Schule und wurde zum Rektor der Universität gewählt [5], [11]. Seine Lebensaufgabe sah der wissenschaftlich ungewöhnlich breit interessierte Winter im „Kampf“ gegen das Zervixkarzinom, den er in Ostpreußen modellhaft und erfolgreich führte [12]. Winter muss zu den Großen und den heute zu Unrecht Vergessenen unseres Fachgebietes gezählt werden. Es war sicherlich in Winters Sinne, dass sein ehemaliger Schüler und Oberarzt Wilhelm Zangemeister (1871 – 1930), seit 1910 Ordinarius in Marburg, zu seinem Nachfolger berufen wurde. Heinrich Kolbow, später selbst I. Oberarzt der Universitäts-Frauenklinik Königsberg, schrieb zurückblickend: „… Zangemeister war eine faszinierende Persönlichkeit, die Assistenten und Studenten in ihren Bann zog. Mit der ihm eigenen Vitalität nahm er die Reorganisation des klinischen Betriebes in Angriff. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf die operative Gynäkologie, deren sichtliche Erfolge von der hervorragenden Operationstechnik und einer äußerst sorgfältigen Diagnostik getragen wurden. Für die Klinik und alle Mitarbeiter bedeutete es einen schweren Schlag, als Zangemeister am 9. März 1930 plötzlich starb. Er erlag einem Herzanfall, der ihn beim Umkleiden zu einer Operation [einem Kaiserschnitt – die Verf.] überraschte …“ [9]. In die Geschichte unseres Fachgebietes ging Wilhelm Zangemeister mit dem sog. 5. Leopoldʼschen Handgriff ein [13]. In der folgenden Interimsphase leitete Prof. Joseph Wieloch kommissarisch die Klinik [1], bis Felix von Mikulicz-Radecki (1892 – 1966), ein Stoeckel-Schüler, 1932 das Ordinariat übernahm [9]. Mit ihm kamen Paul Caffier (1898 – 1945) und Heinrich Kolbow (1904 – 1990), der später über die Königsberger Jahre ausführlich berichtete, an die Frauenklinik der Albertus-Universität [9]. Felix von Mikulicz-Radecki war der Sohn des berühmten Chirurgen Johann von Mikulicz-Radecki (1850 – 1905), der 1887 – 1889 ebenfalls Ordinarius in Königsberg gewesen war. Mikulicz-Radecki setzte das akademische Erbe seiner gynäkologischen Vorgänger erfolgreich fort. Gemeinsam mit Arthur Läwen (1876 – 1958) führte er in Ostpreußen Krebsreihenuntersuchungen durch. Allerdings war er gemeinsam mit Karl Heinrich Bauer (1890 – 1978) auch im Rahmen der Entwicklung von Sterilisationsverfahren theoretisch und praktisch aktiv [14]. Manche seiner diesbezüglichen Publikationen muss man heute als unethisch ansehen. In der Klinik waren neben von Mikulicz-Radecki mehrere Assistenten Mitglieder der NSDAP; es gab aber auch Mitarbeiter mit SA- und SS-Dienstgraden [5]. Carl Clauberg, ein damals führender gynäkologischer Endokrinologe und ehemaliger Oberarzt der Klinik, wurde durch seine menschenverachtenden, verbrecherischen Sterilisationsexperimente an weiblichen Häftlingen im KZ Auschwitz zum Sinnbild der Schuld der deutschen Frauenheilkunde in der Zeit des Nationalsozialismus [15].

In der Nacht zum 30. August 1944 bombardierte die 5. Bombergruppe der Royal Air Force mit Spreng- und Brandbomben gezielt die Königsberger Innenstadt [9]. Dabei brannte das alte Stadtzentrum und auch die Universitäts-Frauenklinik bis auf das Pförtnerhaus ([Abb. 1]) völlig aus, nachdem zuvor noch 20 Säuglinge und 70 Personen aus dem Luftschutzkeller lebend geborgen werden konnten [9]. Die meisten gynäkologischen Patientinnen waren rechtzeitig entlassen oder mit den entbundenen oder schwangeren Frauen in eine sog. Ausweichklinik nach Georgenswalde (Samland), 35 km von Königsberg entfernt, per Zug verlegt worden [16], [17], [18]. Von Mikulicz-Radecki gelang es, am 25. Januar 1945 unter äußerst schwierigen Umständen die Patientinnen der Klinik und einen Großteil seiner Mitarbeiter auf dem überfüllten Dampfschiff „General San Martin“ aus Ostpreußen evakuieren zu lassen [9]. Das Ziel der Flucht war Greifswald: „… Mit der Stunde der Übernahme von Patientinnen und Personal, des mitgebrachten Instrumentariums und von umfangreichem Verbrauchs- und Aktenmaterial durch die Greifswalder Klinik ist das Ende (…) der Königsberger Universitäts-Frauenklinik am 31.01.1945 objektiv und unwiderruflich besiegelt …“ [16].

Zoom Image
Abb. 1 In der ehemaligen Drummstraße, Ecke Kopernikusstraße (heute Bolnichnaya uliza/uliza Kopernika), stand da, wo heute Bäume zu sehen sind, einst die Königsberger Universitäts-Frauenklinik. Das Pförtner-Haus (rechts) aus Backstein existiert noch. Foto: Prof. Ebert 2013

Felix von Mikulicz-Radecki ging nach Jena, wo er im März 1945 kommissarisch die Leitung der Universitäts-Frauenklinik (Nachfolge Prof. Walter Haupt) übernahm [19]. Er verließ die thüringische Universitätsstadt jedoch, als die Amerikaner abzogen und sich sowjetische Truppen näherten. Dann war er zunächst als niedergelassener Frauenarzt in Eutin (Schleswig-Holstein) tätig, später als Chefarzt in Flensburg, wobei er als Gastprofessor wieder an der Universität Kiel Vorlesungen hielt. Einen bereits erteilten Ruf an die Ost-Berliner Humboldt-Universität lehnte er ab, um 1961 schließlich den Lehrstuhl der neugegründeten Freien Universität in West-Berlin zu übernehmen [19].

Ostpreußen, die Stadt Königsberg und ihre 1544 gegründete Albertus-Universität existieren heute nur noch in der Erinnerung weniger Menschen in Deutschland. 1948 entstand in Kaliningrad ein staatliches pädagogisches Institut auf den Trümmern der Albertus-Universität, aus dem 1966 die Staatliche Universität Kaliningrad hervorging. 2005 erfolgte in Anwesenheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin (geb. 1952) und des damaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (geb. 1944) die Umbenennung der Hochschule in Baltische Föderative „Immanuel Kant“ Universität. Gerhard Schröder sagte 2005 in Kaliningrad: „… Sie können stolz darauf sein, in der Tradition dieser Stadt leben zu können. Das, was in dieser Stadt damals begann und solch eine Blüte erlebte, ist zu Grunde gegangen – wir wissen es wohl, und wir sollten es nicht vergessen – durch einen verbrecherischen Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland verbrochen hat (…) Die Lehre aus dieser Geschichte zu ziehen, heißt, gemeinsam mit aller Kraft für eine immer engere Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland zu arbeiten und daran zu bauen, dass das Wirklichkeit wird. Kaliningrad ist heute die westlichste Stadt der russischen Föderation, und das ist in Ordnung. Für viele ist das schmerzhaft; aber das ist Geschichte. Diese Stadt hat eine riesige Chance, und ich möchte, dass sie sich realisiert, nämlich eine wahrhaft europäische Metropole zu werden und damit Grenzen, die gezogen sind, zu überwinden. Das könnte die Bestimmung sein, die den Geist Kants, den Geist dieser Universität (…) widerspiegelt. (…)“ [20].

Ein Jahr später kam es im Rahmen der Etablierung einer medizinischen Fakultät („Mediziniski Institut“) auch zur formellen Gründung eines universitären Lehrstuhls für Gynäkologie und Geburtshilfe. Dieser Lehrstuhl wird seit 2013 von Prof. Alexander I. Pashov geleitet. Die Immanuel-Kant-Universität Kaliningrad entwickelt sich nun auch auf dem Gebiet der Frauenheilkunde und Geburtshilfe, wie einst die Königsberger Albertus-Universität, zu einer wichtigen europäischen Universität des Ostseeraumes.

 
  • Literatur

  • 1 Ebert AD, David M. Vergessene und verdrängte Geschichte – Teil 1: Von der Gründung des königlichen Hebammen-Instituts 1793 bis zur Gründung der Universitäts-Frauenklinik 1844 im ostpreußischen Königsberg. Geburtsh Frauenheilk 2020; 80: 258-260
  • 2 Metzel L. Die dritte Säkularfeier der Universität zu Königsberg. Königsberg: Verlag der Universitäts-Buchhandlung; 1844
  • 3 Prutz H. Die Königliche Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. im neunzehnten Jahrhundert. Zur Feier ihres 350jährigen Bestehens. Regimontii prussorum ex Officina Hartungiana Königsberg 1894.
  • 4 Eulner HH. Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1970: 572
  • 5 Ebert AD. Geschichte der Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie der Albertus-Universität Königsberg von 1793 bis 1945. Ergänzungen zu Heinrich Kolbows Geschichte der Universitäts-Frauenklinik Königsberg i. Pr. In: Ebert AD, Kästner I, Schippan M. Hrsg. Deutsch-Russische Beziehungen in der Frauenheilkunde & Geburtshilfe – Geschichte, Gegenwart und Perspektiven. Europäische Wissenschaftsbeziehungen. Suppl. 3. Düren: Shaker Verlag; 2020
  • 6 Bargmann W. Vierhundert Jahre medizinische Fakultät der Albertus-Universität zu Königsberg (Pr.) Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., Band 1. Überlingen/Bodensee: Otto Dikreiter Verlag; 1951: 62-107
  • 7 Ebert AD, David M. Otto Spiegelberg (1830–1881) und die Kriterien der Ovarialgravidität. Geburtsh Frauenheilk 2015; 75: 1114-1116
  • 8 von Winckel F. Handbuch der Geburtshülfe. II. Band, I. Teil. Wiesbaden: Verlag J. F. Bergmann; 1904: 109
  • 9 Kolbow H. Geschichte der Universitäts-Frauenklinik Königsberg i. Pr. Nachdruck in: Hensel J, Hrsg. Medizin in und aus Ostpreußen. Starnberg: Druckerei Josef Jägerhuber GmbH; 1996: 296-302
  • 10 Dohrn R. Geschichte der Geburtshülfe der Neuzeit. Tübingen: Verlag von F. Pietzcker; 1903
  • 11 Tilitzki C. Die Albertus-Universität Königsberg. Band I: 1871 – 1918. Berlin: Akademie Verlag; 2012
  • 12 Ebert AD, David M. „Es muss gelingen!“ – Georg Winter (1856–1946) und die Anfänge der „Krebsbekämpfung durch Früherfassung“ in Ostpreußen. Geburtsh Frauenheilk 2016; 76: 235-238
  • 13 Ebert AD, David M. Wilhelm Zangemeister (1871–1930) und die 2 Handgriffe nach Zangemeister. Geburtsh Frauenheilk 2013; 73: 399-401
  • 14 Bauer KH, von Mikulicz-Radecki F. Die Praxis der Sterilisierungsoperationen. Leipzig: Verlag J. A. Barth; 1936
  • 15 Ebert AD, Lang H-J, Uhl M. et al. „Ich bin nicht von Himmler gerufen worden, sondern habe mich ausschliesslich aus wissenschaftlichem Interesse an ihn gewandt“ – das Wirken des Gynäkologe Carl Clauberg (1897–1957) im KZ Auschwitz und in der „Stadt der Mütter“ Bad Königsdorff/O.S. Geburtsh Frauenheilk 2019; 79: 924-929
  • 16 Köhler G. Die Evakuierung der medizinischen Fakultät der Universität Königsberg nach Greifswald unter besonderer Berücksichtigung der Universitäts-Frauenklinik. In: Wille M. Hrsg. 50 Jahre Flucht und Vertreibung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Westzonen/Bundesrepublik und der SBZ/DDR. Magdeburg: Helmuth-Block-Verlag; 1997: 103-113
  • 17 von Mickulicz-Radecki F. Bericht des Professors Dr. Felix von Mikulicz-Radecki über die Ereignisse an Bord des Dampfers „General Martinez“ in den Tagen 22.-24. Januar 1945 anläßlich der Evakuierung der gesamten Universitäts-Frauenklinik Königsberg (i. Pr.) ins Reich (Typoskript, medizinhistorische Sammlung Prof. Ebert).
  • 18 von Mickulicz-Radecki F. Als Hochschullehrer in Ostpreußen. Die Ostpreußische Arztfamilie. Sommerrundbrief 1957, S. 9 – 11.
  • 19 David M. Felix von Mikulicz-Radecki (1892 – 1966). In: David M, Ebert AD. Hrsg. Berühmte Frauenärzte in Berlin. Frankfurt/a. M.: Mabuse Verlag; 2007: 169-179
  • 20 Bulletin der Bundesregierung Nr. 62-2 vom 3. Juli 2005. Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Umbenennung der Albertina-Universität in Immanuel-Kant-Universität am 3. Juli 2005 in Kaliningrad