Z Sex Forsch 2020; 33(01): 53-55
DOI: 10.1055/a-1103-7211
Buchbesprechungen

Sexualität und Gender im Einwanderungsland. Öffentliche und zivilgesellschaftliche Aufgaben – ein Lehr- und Praxisbuch

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Uwe Sielert, Helga Marburger und Christiane Griese, Hrsg. Sexualität und Gender im Einwanderungsland. Öffentliche und zivilgesellschaftliche Aufgaben – ein Lehr- und Praxisbuch. Berlin, Boston, MA: De Gruyter Oldenbourg 2017. 371 Seiten, EUR 34,95

Schaut man sich öffentliche Debatten, aber auch private Politikgespräche der letzten Jahre an, so fällt auf, dass besonders zwei Themen – durchaus aus aktuellem Anlass – einigen Raum darin eingenommen und trotz all der Aufmerksamkeit dabei nicht an Brisanz verloren haben: Fragen um Einwanderung sowie um sexuelle und geschlechtliche Vielfalt sind heute nach wie vor politisch und gesellschaftlich hoch relevant. Die Tonarten fallen durchaus unterschiedlich aus, und nicht selten werden Spekulationen und persönliche Meinungen zu Tatsachen erhoben. Umso erfreulicher ist es, dass mit dieser Veröffentlichung zum einen Daten und Erfahrungswerte zu diesen Fragen verfügbar, vor allem aber deren Schnittstellen beleuchtet und dargestellt werden. Denn obwohl Migrant_innen und Sexualität als Thema hin und wieder gemeinsam im Diskurs auftauchen, fehlt meist die Reflexion dessen, was die Implikationen einer Verkettung von Migrationserfahrungen und dem Erleben von Sexualität und Geschlechtsidentität etwa für Diskriminierung oder Integration sind.

Herausgegeben von Uwe Sielert, Helga Marburger und Christiane Griese ist es als Lehr- und Praxisbuch betitelt und hat einen sozialwissenschaftlichen und -pädagogischen Schwerpunkt. Dennoch können auch andere Berufsgruppen und Studierende anderer Fächer, die sich mit Migration, Sexualität und Gender auseinandersetzen, von den Inhalten profitieren. Durch die Vertiefungsfragen, die für jedes Kapitel zur Verfügung gestellt werden, ist der Nutzen des Buches für die Lehre besonders deutlich. In den vier Abschnitten des Buches nähern sich die Autor_innen dem Zusammenhang von Sexualität, Gender und Einwanderungsgesellschaft aus verschiedenen Blickwinkeln. Im ersten und zweiten Abschnitt werden die gesellschaftlichen Entwicklungen hinsichtlich Einwanderung und sexueller Vielfalt in Deutschland nachgezeichnet sowie öffentliche, v. a. mediale Diskurse darüber untersucht. Der dritte Abschnitt ist Studienergebnissen gewidmet, für die die Thematik in verschiedenen Kontexten beforscht wurde. Schließlich werden im letzten Teil diverse Bildungs- und Unterstützungsangebote sowie Projekte beschrieben, die z. T. auf Migrant_innen zugeschnitten sind oder deren Konzepte für die besonderen Lebensumstände dieser Menschen geöffnet wurden.

Inhaltlich zentral sind die Konzepte Intersektionalität (das Zusammenfallen mehrerer diskriminierter Merkmale und dessen Auswirkungen) und Othering (Ausgrenzung von Menschen aufgrund eines Merkmals als die Gruppe der „Anderen“), die immer wieder aufgegriffen werden, um die besondere Position von Migrant_innen zu erläutern. Außerdem wird die Rolle behandelt, die Migrant_innen symbolisch für Einheimische spielen, um eigene sexuelle Wünsche und Ängste abzuwehren oder um durch stereotype Annahmen über deren Sexualität und vermeintliche Schutzbestrebungen eigene rassistische Einstellungen zu verschleiern. Viele solcher Annahmen (alle Migrantinnen sind Unterdrückte in Familie und Gesellschaft und leiden unter ihrer Rolle, die Sexualität der „Fremden“ stellt eine Gefahr für Einheimische dar, Muslim_innen und Christ_innen sind grundverschieden hinsichtlich traditioneller und liberaler Einstellungen oder Geschlechterrollengestaltung, mit Migrant_innen kann nicht über Sexualität gesprochen werden, da dies für sie zu schambehaftet ist, usw.) werden im Laufe der Kapitel entweder durch Daten widerlegt oder als Projektionen entlarvt.

Durch die Lektüre bekommen Leser_innen einen Eindruck von der Vielfalt an Überschneidungen der Bereiche Sexualität, Gender und Migration sowie vom breiten Spektrum an Initiativen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen oder Migrant_innen unterstützen. Es wird sichtbar, wie groß die Forschungslücken noch sind, dass es aber auch bereits erste Vorstöße in Form von Studien gibt. Etwas schade ist, dass neben den Themen der Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen, sexuellen Orientierung und Aufklärung gelebte Sexualität und eventuelle Veränderungen oder Herausforderungen durch Migration kaum Erwähnung finden. Möglicherweise liegen diesbezüglich aber auch noch keine Daten vor. Insgesamt ist es ein lesenswertes Buch für alle, die die Hintergründe öffentlicher Debatten besser verstehen oder die eigene Haltung dazu reflektieren wollen und die sich für praktische Beispiele zur Förderung von sexueller Bildung und Integration interessieren.

Thula Koops (Hamburg)



Publication History

Article published online:
12 March 2020

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Stuttgart · New York