Nervenheilkunde 2020; 39(05): 274-283
DOI: 10.1055/a-1094-9461
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychologie und Pandemie

Die Auswirkungen des Corona-Virus auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft
Manfred Spitzer
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
05. Mai 2020 (online)

Noch nie habe ich ein Editorial für die Nervenheilkunde in dem Wissen geschrieben, dass es veraltet sein wird, wenn es erscheint. Aber inmitten einer Pandemie mit noch immer exponentiellem Verlauf ist auch der späteste weitgehende Redaktionsschluss (6.4.2020) um Wochen zu früh, und die weltweiten 1,2 Millionen infizierten Menschen sowie 64 000 Toten werden längst (noch vergleichsweise „harmlose“) Vergangenheit sein. Warum schreibe ich trotzdem?

Eines war klar: Ich kann nicht „nicht“ über die Corona-Pandemie schreiben, denn einerseits durchleben wir gerade eine globale Pandemie, „für die es bislang kein Drehbuch gibt“ (so der deutsche Finanzminister Olaf Scholz), und andererseits leidet der überwiegende Teil der Menschen hierzulande (noch) nicht unter dem Virus, sondern unter sich selbst: Ängste und Ungewissheit, soziale Distanz und Einsamkeit, gleichzeitig mit sozialem Druck und Überflutung durch immer bedrohlichere Nachrichten, Fake-News und Verschwörungstheorien und Politiker (glücklicherweise vor allem ausländische), die gar nichts zu begreifen scheinen und keine oder die falschen Maßnahmen beschließen oder sich gar selbst widersprechen. Bei alldem geht es um uns Menschen und erst in zweiter Linie um das Virus. Deswegen ist gerade jetzt neben dem Virologen und Epidemiologen auch der Psychiater herausgefordert.

In lebenspraktischer Hinsicht hat das in den letzten Wochen sehr viel Arbeit gemacht und Selbstbeherrschung gekostet. Chefvisite mit Mundschutz und ohne Handschlag hätte ich mir bis vor wenigen Wochen weder vorstellen können, noch wollen, aber es muss nun sein (und es zeigte sich, dass nicht nur Minister Mühe haben, den Handschlag zu unterdrücken). Das gesamte Universitätsklinikum Ulm (UKU) befindet sich seit Wochen im Corona-Notfall-Modus: Verschiedene Teams planen die Versorgung von zu erwartenden künftigen Kranken. Ich selbst bin seit 3 Wochen Mitglied eines Umsetzungsteams, das täglich direkt im Anschluss an die Krisen-Task-Force zusammenkommt und sich überlegt, wie man praktisch umsetzt, was zuvor von Klinikleitung, Anästhesie, Chirurgie und Innerer Medizin prinzipiell beschlossen wurde.

Seit dem 16. März erfinden wir in der Psychiatrischen Klinik in Ulm fast täglich die Psychiatrie neu, um unter sich ständig verändernden Bedingungen das zu tun, was wir immer tun: unsere Patienten weiter wie bisher so gut wie möglich zu versorgen. Diese Veränderungen müssen sein, denn die von Kanzlerin Merkel am Donnerstag den 12.3. zu Recht geforderte und in ihrer Rede an die Nation am 18.3. nochmals eindringlich betonte sozialen Distanz passt nicht zu Gruppentherapien, die in den Bereichen Sport, Musik, Kunst, manuelles Arbeiten mit verschiedenen Materialien und Zielen sowie im psychotherapeutischen Bereich zum Standard der Versorgung stationärer Patienten gehören. Seit Immanuel Kant [20], dem Philosophen der Aufklärung, wissen wir, dass psychische Krankheit mit einem Verlust des sensus communis einhergeht, weswegen die „therapeutische Gemeinschaft“ das Rückgrat unseres Tuns darstellt.

Ganz allgemein und weder nur für die Psychiatrie noch nur für Ulm gilt: In einigen Monaten werden wir wissen, wie Deutschland und sein gesamtes gesundheitliches Versorgungssystem mit der schwersten Belastungsprobe fertig geworden sein werden, die es – um mit der Kanzlerin zu reden – seit dem Zweiten Weltkrieg gab. Eine solche Situation haben die meisten Menschen noch nicht erlebt. Was bedeutet dies alles für jeden einzelnen?

Es geht im Folgenden also weder um das Virus SARS-CoV-2 noch die von ihm verursachte Krankheit Covid-19, sondern um uns – unser Erleben, Fühlen, Bewerten, Entscheiden und Handeln in Zeiten von Krisen – als Einzelne, als Gruppe und als Gesellschaft. Wie sich mittlerweile herumspricht, sind unsere Verhaltensweisen und Reaktionen auf das Virus für die Bewältigung der Krise mindestens so wichtig wie das Wissen über das Virus selbst. Was also wissen wir? – Nicht erst seit Corona durchaus eine ganze Menge.