Pneumologie 2020; 74(01): 54-56
DOI: 10.1055/a-1069-0338
Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Schwellenwerte und Maßzahlen zur Krankheitslast“

Kommentar zu Schulz H, Karrasch S, Bölke G et al. Atmen: Luftschadstoffe und Gesundheit – Teil I. Pneumologie 2019; 73: 288 – 305
Peter Morfeld
,
Thomas Erren
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Publication Date:
20 January 2020 (online)

Mit Interesse haben wir Teil I [1] des wissenschaftlichen Positionspapiers der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zum Thema „Atmen: Luftschadstoffe und Gesundheit“ sowie den sich anschließenden Leserbriefwechsel [2] [3] gelesen. Zwei Themenfelder möchten wir kommentieren: 1) Schwellenwerte bei Umweltexpositionen und 2) Maßzahlen der Krankheitslast durch Umweltexpositionen (sog. EBD-Metriken).

1) Schnitzler [2] und Schulz et al. [3] diskutieren den relevanten Aspekt eines möglichen Schwellenwerts der Wirkung von Umweltexpositionen. Auch wenn aus toxikologischer Sicht eine solche Schwelle > 0 plausibel sein könnte („Es gibt immer auch Expositionsbereiche eines Agens, die keine unerwünschten Wirkungen auslösen.“ [4], S. 1223), so ist eine solche Schwelle epidemiologisch möglicherweise nicht erkenn- bzw. darstellbar. Wenn die Wirkungsschwelle individuell stark variiert und/oder die Expositionsdaten vergleichsweise unpräzise sind (was für die Umweltepidemiologie eher als Erwartung denn als Ausnahme angenommen werden mag), wird die Expositions-Respons-Kurve in epidemiologischen Studien „verschmiert“. Daraus resultiert ein systematischer Fehler („bias“), nämlich eine Unterschätzung des Schwellenwerts bis hin zur Nullhypothese „Schwelle = 0“, d. h. bis hin zur Situation, dass kein Schwellenwert erkennbar ist (Beweis in [5]). Insofern kann eine Schwelle bei üblicher epidemiologischer Auswertung vollständig maskiert sein, selbst wenn für alle Studienteilnehmer tatsächlich ein Schwellenwert > 0 für die Expositionswirkung gilt. Aus den in [3] zur Widerlegung einer Schwelle > 0 angeführten epidemiologischen Studienergebnissen lässt sich somit kein Argument gegen die Existenz eines Schwellenwertes ableiten (die Nullhypothese „kein Schwellenwert“ ist epidemiologisch nicht beweisbar). Da aus toxikologisch-mechanistischer Sicht die Existenz von Schwellen > 0 plausibel ist [6] [7] [8], sollte man über die üblichen Auswerteverfahren hinaus auch in umweltepidemiologischen Studien mit geeigneter Modellierung einen Schwellenwertparameter empirisch schätzen und gleichzeitig an den Daten rigoros statistisch testen, ob die Nullhypothese „kein Schwellenwert“ abgelehnt werden kann [9] [10] [11].

2) Die folgende Passage aus dem Abschnitt „Der Environmental Burden of Disease (EBD)-Ansatz zur Abschätzung umweltbezogener Krankheitslasten“ in [1] stellt in Zusammenhang mit den methodischen Vorbehalten gegenüber üblichen EBD-Metriken [12] eine wichtige Relativierung dar: „Hierfür stehen mehrere Indizes zur Verfügung, die üblicherweise begrifflich als ,vorzeitige‘ oder ,verursachte Todesfälle‘, ,verlorene Lebensjahre‘ und sog. ,Lebensjahre mit Einschränkung‘ (disability-adjusted life years, DALYs) bezeichnet werden. Diese Indizes dürfen aber nicht verwechselt werden mit tatsächlichen Todesfällen, die ein bestimmter Risikofaktor auslöst, also z. B. mit Toten infolge von Verkehrsunfällen, sondern gewinnen nur durch den Vergleich verschiedener Umweltbelastungen oder durch einen Vergleich einer Belastung über die Zeit ihre Bedeutung.“ Diese im Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin genannte notwendige Relativierung betrifft bestehende Aussagen des Umweltbundesamtes[1] und der Max-Planck-Gesellschaft[2]. Allerdings enthält die zitierte Passage aus [1] auch zwei Missverständnisse, die wir im Folgenden besprechen möchten.

Zum einen ist es nicht angemessen, die Metrik attributable verlorene Lebensjahre in die relativierende Aussage einzubeziehen: Diese EBD-Metrik ist nicht nur als Vergleichsindex sondern auch als absolute Zahl wohldefiniert und kann als eine konsistente statistische Schätzung des Erwartungswerts der durch die Exposition verlorenen Lebenszeit sinnvoll interpretiert werden, so wie es in [12] dargestellt wird (Beweise in [13] [14]).

Zum anderen ist die implizierte Feststellung nicht gültig, die berechnete Anzahl attributabler vorzeitiger Todesfälle sei für Vergleiche geeignet. Denn diese Metrik ist weder als absolute Zahl noch als Vergleichsindex sinnvoll verwendbar, wie wir im Folgenden erläutern. Stimmen Trendaussage bzw. Ranking über Kalenderjahre, Expositionen etc. aufgrund der berechneten Anzahl vorzeitiger Todesfälle mit einer entsprechenden Aussage überein, die mit Hilfe von Anzahlen attributabler verlorener Lebensjahre gewonnen wird, so ist eine Darstellung der berechneten Anzahlen vorzeitiger Todesfälle überflüssig. Stimmen die Aussagen aber nicht überein, so ist allein die Darstellung mit Hilfe verlorener Lebenszeit wissenschaftlich belastbar: Beweise in [12] [15] zeigen, dass die tatsächlichen Anzahlen verursachter vorzeitiger Todesfälle deutlich größer oder kleiner sein können als die mit dem üblichen Algorithmus ermittelten Zahlen, weshalb die wahren Anzahlen nicht der Ordnung der berechneten Zahlen folgen müssen. Solche berechneten Zahlen bilden deshalb keine belastbare Rangordnung für Vergleichszwecke, weder zum Vergleich von verursachten Todesfallzahlen über unterschiedliche Kalenderjahre noch zum Vergleich von Anzahlen vorzeitiger Todesfälle verursacht durch verschiedene Expositionen. In der Gesamtschau sollte also auch auf eine Verwendung der Anzahlen attributabler vorzeitiger Todesfälle zu Vergleichszwecken verzichtet werden, und zwar zu Gunsten von Aussagen auf Basis der durch die Exposition verlorenen Lebenszeit.

Im Sinne des oben Genannten kommentiert Nowak [16] in seinem Editorial im Deutschen Ärzteblatt die von der Weltgesundheitsorganisation für die Jahre 2030 – 2050 durch die Erderwärmung jährlich zusätzlich erwarteten 250 000 Todesfälle wie folgt: „So existenziell das Problem ist, ich sehe diese traditionelle Berechnung zusätzlicher – oder korrekter müsste es heißen vorzeitiger – Todesfälle als mitunter für den Kliniker schwer verständlich an und kann mir vorstellen, dass die durch die Exposition verlorene Lebenszeit pro Person (6) ein angemesseneres Maß wäre. Diese Definition würde es erlauben, unterschiedliche Risiken auf eine gemeinsame und geläufigere Skalierung zu bringen und vergleichbar zu machen.“

Hier bieten wir eine Anwendung auf den sog. UBA-Bericht zu NO2 [17]. Zunächst betrachten wir die exponierte Zielpopulation der mindestens 30-Jährigen in Deutschland. Die in dieser Population verlorene Lebenszeit durch NO2-Konzentrationen > 10 μg/m3 betrug 2014 nach Tabelle 5 in [17] 87,96 Jahre pro 100 000 Einwohner, d. h. 87,96 × 365,25 × 24 h/100 000 = 7,7 h pro Einwohner in 2014. Bei der Restlebenserwartung einer 30-jährigen Person von ca. 50 Jahren [18] ergibt dies im Längsschnitt ungefähr 50*7,7 h = 16 Tage Lebenszeitverlust. Alternativ kann die Geburtskohorte der Verstorbenen betrachtet werden. Insgesamt gingen laut UBA-Bericht [17] 49 726 Jahre durch die NO2-Exposition in 2014 verloren. Da in diesem Kalenderjahr 860 790 Personen in der Zielpopulation verstarben [19], beträgt der erwartete Verlust an Lebenserwartung durch die NO2-Exposition im Längsschnitt pro Person 49 726/860 790 Jahre = 21 Tage. Der hier ermittelte Schätzwert des Lebenszeitverlustes durch NO2- Exposition von ungefähr 2 – 3 Wochen pro Person kann zur Orientierung mit Angaben zum Zuwachs der Lebenserwartung in Deutschland von ca. 1 Jahr pro 4 Kalenderjahre verglichen werden (d. h., wer 1984 geboren wurde, hat eine um ca. 1 Jahr größere Lebenserwartung als eine Person, die 1980 geboren wurde) [20] oder mit dem Lebenszeitverlust in Deutschland durch Lebensstilfaktoren, wie z. B. starker Alkoholkonsum bei Männern (ca. 3 Jahre) oder Adipositas (ca. 3 Jahre) [21]. Soll diese grobe Abschätzung des Lebenszeitverlusts durch NO2-Exposition in Höhe von ca. 2 – 3 Wochen verbessert werden, so muss die EBD-Studie mit ihren einschränkenden Annahmen aufgegeben und eine longitudinale Auswertung durchgeführt werden („impact analysis“), in der die Populationsdynamik explizit berücksichtigt wird [22].

Zu konzeptionellen Problemen der sog. DALYs verweisen wir auf [12].

Weitere begriffliche Klarstellungen können unseren Antworten [23] [24] auf die beiden Leserbriefe [25] [26] zu unserer Publikation [12] entnommen werden. Eine umfassende Herleitung und Diskussion der Sachverhalte enthält [27]. Wir betonen, dass wir keine neuen Erkenntnisse darstellen. Die genannten Sachverhalte wurden von führenden epidemiologischen Methodikern bereits in den 1980er-Jahren mathematisch geklärt [14] [15].