Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(02): 74-75
DOI: 10.1055/a-1062-0515
Editorial

Ressourcen – orientierte Versorgung geflüchteter Personen mit psychischen Erkrankungen

Andreas Heinz
,
Ulrike Kluge

Mit der Ankunft einer großen Zahl geflüchteter Personen aus Krisen- und Kriegsgebieten insbesondere in Syrien, dem Irak und Afghanistan stellten sich seit 2015 erhöhte Anforderungen an eine kultur- und migrationssensible Versorgung von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte in Deutschland. Die Versorgung dieser Zielgruppen ist aufgrund multipler Barrieren wie der fehlenden Kostenerstattungen für Dolmetscherleistungen, der Stigmatisierung psychiatrischer Erkrankungen sowie einem Mangel an kultursensiblen Diagnoseinstrumenten und Therapieangeboten unzureichend (Penka, et al., 2015; Kluge, et al., 2017). Diese Defizite und Zugangsbarrieren waren schon vor 2015 offensichtlich und wurden noch deutlicher durch die Ankunft einer großen Zahl von Personen, die im Rahmen allgemeiner psychiatrischer Erkrankungen, aber auch aufgrund besonderer Traumatisierungen im Kriegsgebiet oder während der Flucht entsprechender professioneller Unterstützung bedurfte. Tatsächlich zeigen Menschen mit Fluchterfahrung gegenüber anderen Personen mit Migrationshintergrund ein allgemein erhöhtes Risiko für trauma- und stressbezogene (Hassan, et al., 2015) sowie psychotische Erkrankungen (Brandt, et al., 2019). Geflüchtete weisen ein um circa 40 Prozent erhöhtes Risiko auf, an einer Psychose zu erkranken (Brandt et al., 2019), wofür aber offenbar nicht nur die belastenden Erfahrungen in der Krisenregion und auf der Flucht, sondern auch die Umstände im Aufnahmekontext, in dem die Flucht vorerst oder langfristig endet, beitragen. Generell wurde beobachtet, dass Diskriminierung und soziale Ausschließung das Psychose-Risiko bei Menschen mit Migrationshintergrund erhöhen, insbesondere dann, wenn diese einer sichtbaren Minderheit angehören und in einer Wohngegend leben, in der sie wenig Unterstützung durch die Nachbarn erfahren (Henssler, et al., 2019).

Die Vielzahl von spontan entstandenen Initiativen in der Zivilgesellschaft, die geflüchtete Menschen in Deutschland unterstützen, war daher von großer Bedeutung auch für die psychische Gesundheit der hier ankommenden Personen. Eine sehr wichtige Rolle bei der Gestaltung der Versorgung übernahmen auch spontan eingerichtete Sprechstunden in den großen Flüchtlingslagern und andere von Professionellen organisierte Netzwerke, die sich aktiv darum bemühen, Zugangsbarrieren so gering wie möglich zu halten. Angesichts der hohen Zahl ankommender Menschen mit Hilfebedarf zeigte sich aber trotz aller Bemühungen eine Lücke zwischen dem in Deutschland etablierten, hochspezialisierten Versorgungssystem einerseits und den alltäglichen Bedürfnissen und der teilweise fehlenden Kenntnis über die Versorgungsmöglichkeiten auf Seiten der geflüchteten Personen und ebenfalls auf Seiten vieler Professioneller. Verschiedene Initiativen versuchten deshalb, diese Lücke durch niederschwellige Ansätze zu schließen, indem z. B. über das Internet, Mobiltelefone oder mit Hilfe von Multiplikatoren aus dem Kreis der Geflüchteten Informationen vermittelt oder Selbsthilfegruppen organisiert worden sind (sogenanntes „Peer-to-Peer Training“, Böge, et al., 2019). Diese Programme beruhten einerseits auf Erfahrungen der Versorgung psychisch Kranker in Regionen, in denen es aufgrund langjähriger Kriege und einer damit verbundenen Einschränkung der Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten an professionell geschulten Psychiaterinnen, Psychiatern, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mangelt. So wurden in Afghanistan von Inge Missmahl und anderen psychosoziale Beraterinnen und Berater ausgebildet, die unterschiedliche berufliche Vorerfahrungen mitbrachten und in einem gestuften Gesundheitssystem eine bevölkerungsbezogene Versorgung psychisch Kranker in Krisen ermöglichen können (Missmahl, et al., 2012). Frau Missmahl unterstützte dementsprechend den Aufbau solcher „Peer-to-Peer Interventionen“ und arbeitete hier eng mit dem israelischen Psychologen Rony Berger zusammen, der große Erfahrungen mit Interventionen hat, die auf die Reduktion von Vorurteilen und Stigmatisierungen in Krisenregionen zielen (Brenick, et al., 2019). Diese Selbsthilfegruppen wurden bezüglich ihrer Wirksamkeit im Rahmen eines gestuften Versorgungsprojektes untersucht, das als weitere Behandlungsoptionen psychotherapeutische Gruppen für besonders vulnerable Personen wie Frauen oder Kinder mit Fluchterfahrungen beinhaltete sowie psychotherapeutisch geleitete Gruppeninterventionen und Einzelgespräche vorsah (Böge, et al., 2019; Schneider, et al., 2017).

Die in dieser Ausgabe vorliegenden Artikel berichten über erste Ergebnisse aus diesen gestuften Interventionsprogrammen. Die folgenden Artikel sind im Sinne eines gestuften Verfahrens so angeordnet, dass mit Berichten über die Interaktion in der Zivilgesellschaft begonnen wird und spezialisierte Interventionen in späteren Artikeln erörtert werden.

Als erstes berichten Nassim Mehran und andere von der Beziehungsgestaltung zwischen Frauen mit Fluchterfahrung und weiblichen Freiwilligen in Hilfestrukturen der Zivilgesellschaft. Sie beschreiben die sprachlichen und strukturell bedingten Missverständnisse und Möglichkeiten, schlagen dialogische Ansätze vor und fordern eine horizontale Organisation der Freiwilligenarbeit in diesem Bereich.

Gutknecht und andere berichten über die Evaluation eines Laienhilfeprojektes zur psychischen Stabilisierung von Geflüchteten und stellen erste Ergebnisse solcher Interventionen vor.

Erfahrungen mit der Peer-to-Peer Intervention für Geflüchtete berichten Jinan Abi Jumaa und andere. Diese Daten resultieren aus Pilotuntersuchungen zur Erprobung und Verfeinerung der Manuale und des Peertrainings, das derzeit in einer Studie zur gestuften Versorgung systematisch evaluiert wird CITATION Bög19 \l 1031 (Böge, et al., 2019).

Zwei Artikel berichten über die Entwicklung von Diagnoseinstrumenten zur zielgerichteten Erfassung und Behandlung psychischer Erkrankungen. Eric Hahn und andere schildern die Entwicklung einer kultursensiblen Version eines allgemeinpsychiatrischen Instruments zur Krankheitsklassifikation, während Elnahrawy und andere die Anpassung eines Diagnoseinstruments für Zwangsstörungen an kultursensible Bedürfnisse erörtern.

Schließlich berichten Maryam Roayaee und andere, mit welchen Instrumenten soziale Ausschließung und deren psychische Auswirkungen erfasst werden können. Konkret wird hier die Fortentwicklung des Cyberball Paradigmas geschildert, welches es erlaubt, soziale Ausschließung durch messbare Interaktionen zu quantifizieren. Die Herausforderungen in Folge der Ankunft der größeren Zahl von geflüchteten Personen hat also das deutsche Gesundheitssystem, und die Hilfestrukturen für psychisch Kranke und ihre Interaktionen mit der Zivilgesellschaft nicht nur herausgefordert, sondern auch zu einer Vielzahl von Lösungswegen geführt, deren kreatives und therapeutisches Potential hier anhand erster Berichte beurteilt werden kann. Die gewonnenen Erkenntnisse sind nicht nur relevant für die Versorgung in Deutschland, sondern können auch für den Einsatz in anderen Krisenregionen nutzbar gemacht werden (Missmahl, et al., 2012).



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
26. Februar 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

 
  • Literatur

  • 1 Böge K, Karnouk C, Hahn E, Schneider F, Habel U, Banaschewski T, Meyer-Lindenberg A, Salize H.J, Kamp-Becker I, Padberg F, Hasan A, Falkai P, Rapp M.A, Plener P.L, Stamm T, Elnahrawy N, Lieb K, Heinz A, Bajbouj M. 2019 Mental health in refugees and asylum seekers (MEHIRA): study design and methodology of a prospective multicentre randomized controlled trail investigating the effects of a stepped and collaborative care model. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. DOI: 10.1007/s00406-019-00991-5 [Epub ahead of print]
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  • 9 Schneider F, Bajbouj M, Heinz A. 2017; [Mental treatment of refugees in Germany: Model for a stepped approach]. Nervenarzt, 88 (01) S. 10-17.