Hands on - Manuelle und Physikalische Therapien in der Tiermedizin 2020; 2(01): 59
DOI: 10.1055/a-1046-2318
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Ambiguitätstoleranz – das entschiedene „Vielleicht“

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Richtig oder falsch? Kommt drauf an! Manchmal ist es wichtig, Uneindeutigkeiten aushalten zu können. Quelle: 3 D generator

Wissen Sie, was eine Kopfschmerztablette und „Dobby“, der Hauself von Harry Potter gemeinsam haben? Die Antwort ist ganz einfach: Beiden fehlt es an Eindeutigkeit. Keine Wirkung ohne Nebenwirkung und kein garstiger Hauself, der nicht auch Gutes getan hätte. Oft befinden sich viele Grautöne zwischen eindeutigen Aussagen, Therapieempfehlungen, Meinungen oder der eigenen Wahrnehmung. Die Fähigkeit eines Individuums, Doppeldeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten auszuhalten, wird als Ambiguitätstoleranz bezeichnet. Weisen wir ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz auf, fällt es uns leicht, Unsicherheit zu tolerieren. Besitzen wir jedoch ein geringes Maß an Toleranz gegenüber Doppeldeutigkeiten, neigen wir dazu, unser Umfeld mit Regelsystemen kontrollierbarer zu machen. Die hieraus entstehenden Regelsysteme spiegeln dabei allerdings nicht immer besonders reflektierte Denkweisen wider. Die Vermeidung von Unsicherheit ist dabei allerdings nicht gleichbedeutend mit der Vermeidung von Risiko.

Eine Frage der Kultur?

Nicht nur das Individuum, sondern auch Kulturen haben ein unterschiedliches Maß an Toleranz gegenüber Unsicherheit. Der Kulturwissenschaftler Prof. Geert Hofstede untersuchte Auswirkungen der Ambiguitätstoleranz auf kulturelle Systeme. So zeigen auf der Skala des Unsicherheits-Vermeidungs-Index (UAI) Indien, China und Dänemark kein stark ausgeprägtes Bedürfnis, Widersprüchlichkeit zu vermeiden. Russland und Japan liegen dagegen auf der anderen Seite der Skala. Deutschland befindet sich auch eher auf der Seite der Kulturen, die Sicherheit und Regeln bevorzugen. Generell findet man in diesen Gesellschaften eine höhere Xenophobie, mehr Stress, mehr Aggression, mehr Regeln und generell eine geringere Flexibilität – beispielsweise die Bereitschaft, den Job zu wechseln oder medizinische Interventionen Pflegepersonal zu überlassen. Ambiguitätstoleranz ist eine Eigenschaft, die auch dafür verantwortlich ist, mit wie viel Stress wir auf inkonsistente Menschen und Situationen reagieren. Dies gilt auch für das Verhalten in Situationen, in denen gegensätzliche Dinge von uns erwartet werden: Empathisch sein und trotzdem sachlich bleiben – oder neue Behandlungen auszuprobieren und dabei den drohenden Zeigefinger bewährter Therapiemethoden im Hinterkopf zu haben. Die evidenzbasierte Medizin spiegelt auch das Bedürfnis nach Sicherheit wider. Natürlich sind potente Studien etwas, was wir uns alle für unsere therapeutische Arbeit wünschen, aber Erfahrungen mit Methoden sind nicht statisch und es gibt sie nun einmal nicht für alles – und auch nicht immer in ausreichender Qualität.

Ja? Nein? Vielleicht!

Schön wäre es, wenn es uns gelingen würde, auf Nicht-Eindeutigkeit nicht mit Aggression und Regelwerken zu reagieren, sondern aufgeschlossen zu bleiben und in den Optionen neue Möglichkeiten zu erkennen. Wie das chinesische Schriftzeichen für „Gelegenheit“, welches sowohl „Krise“ als auch „Chance“ bedeuten kann. Die finale Bewertung von Dingen findet zum Glück letztendlich immer in unserem eigenen Kopf statt.

Dr. Doris Börner



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Article published online:
31 March 2020

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