Nervenheilkunde 2020; 39(04): 198-205
DOI: 10.1055/a-1033-9748
Editorial
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Keilschrift, Kant und Kaufverträge

Von der Philologie zur Medienkompetenz und zurück
Manfred Spitzer
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Publication Date:
02 April 2020 (online)

„Die Erfindung der Schrift vor mehr als 5 Jahrtausenden veränderte die Gesellschaften zwischen Tigris und Nil grundlegend. Die Einführung der Hieroglyphenschrift in Ägypten und der Keilschrift in Mesopotamien war eine Innovation mit weitreichenden Folgen für das Zusammenleben der Menschen, für Kommunikation und Kontrolle, Planung und Organisation, Erinnerungskultur und Traditionsbildung, Arbeitswelt und soziale Strukturen, künstlerische Ausdrucksformen und nicht zuletzt für die Speicherung, Verarbeitung und Übermittlung von Wissensbeständen.“

Ersetzt man in diesem Zitat aus dem sehr lesenswerten Buch „Erste Philologien“ von Eva Cancik-Kirschbaum und Jochem Kahl [4] ([ Abb. 1 ]) über die Anfänge der Philologie das Wort „Schrift“ durch „Computer“, kann man alles so stehen lassen. Dies bedeutet auch, dass wir uns mit den Prozessen des Verstehens, der Speicherung und der Weitergabe von Wissen nicht erst seit einigen Jahrzehnten, sondern seit mehr als 4 Jahrtausenden beschäftigen. Man nennt dieses Sachgebiet seit etwa 2 Jahrhunderten Philologie.

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Abb. 1 Cover des Buchs „Erste Philologien“ von Eva Cancik-Kirschbaum und Jochem Kahl.

Zur Geschichte sei in systematischer Hinsicht kurz erwähnt, dass das Fehlen eines Begriffs in einer alten Sprache keineswegs bedeuten muss, dass über die mit ihm gemeinten Sachverhalte nicht nachgedacht worden wäre. „Beispielsweise war Religion in Ägypten und Mesopotamien allgegenwärtig, allerdings wird man in den modernen Wörterbüchern vergeblich nach einem Begriff dafür suchen“, verdeutlichen Cancik-Kirschbaum und Kahl [4] dies an der Religion und übertragen den Gedanken auf die Philologie. Das Wort wurde auch in der griechisch-römischen Antike nicht in der heute üblichen Bedeutung verwendet, die sich erst im vorletzten Jahrhundert herauskristallisierte. Noch Kant verstand darunter eher so etwas wie „Universalgelehrtentum“, Hegel sprach von einem unwissenschaftlichen Disziplinen-Aggregat, und für Wilhelm von Humboldt war Philologie all das, was man heute unter „Geisteswissenschaft“ und im angloamerikanischen Sprachraum unter „Humanities“ versteht [7].

Die Philologie als Wissenschaft vom Verstehen, die sich sowohl um Grammatik, Psychologie, Geschichte und Kritik eines Textes kümmert und diese Aspekte des Verstehens reflektiert, gibt es seit etwa 200 Jahren, wobei verschiedene Autoren und mittlerweile Wissenschaftszweige unterschiedliche Schwerpunkte setzten. Studiert man heute lateinische, griechische oder orientalistische Philologie (z. B. die Assyriologie), dann paukt man zunächst die Sprachen (und Schriften), d. h. deren Wörter und deren Bedeutungen (Semantik) und die Struktur der Sprachen (Grammatik). Wussten Sie, dass man Keilschrift nur dann wirklich lesen kann, wenn man auch etwa ein Dutzend Sprachen beherrscht, die in Keilschrift aufgeschrieben wurden? Studiert man Psychologie, geht es um das Nacherleben und Nachvollziehen von Gefühlen und Gedanken (einschließlich der Frage, inwieweit hier Allgemeingültigkeit bestehen kann). Und studiert man Religion oder Geschichte, geht es eher um das Verstehen von Inhalten im Sinne einer Rekonstruktion der hinter vielfältigen Überlieferungen herauszufindenden Wahrheit (und aller Probleme, die damit verbunden sind).