manuelletherapie 2019; 23(05): 201-202
DOI: 10.1055/a-1031-4573
Forum

Leserbrief zu: Egmond D et al. Physiotherapie der Rotatorenmanschette – ein mehrdimensionaler Ansatz. manuelletherapie 2019; 23: 155–162

Steffen Klittmann
,
Oliver Endreß

Lieber Herr Egmond,

vielen Dank für den Einführungsartikel zum mehrdimensionalen Ansatz bei Dysfunktionen der Rotatorenmanschette. Wir finden Ihre Hintergrundgedanken sehr spannend und denken, die Versorgung von Patienten mit Schulterproblemen könnte so flächendeckend verbessert werden. Weiterhin sind wir der Meinung, dass Ihre Idee Potenzial für einen Individualvertrag (wie z. B. PAIN2020) mit den Gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland hat. Somit könnten die schlechte konservative Versorgungssituation von Patienten mit Schulterproblemen in Deutschland behoben und auch attraktive Arbeitsfelder für Physiotherapeuten geschaffen werden.

Wir fragen uns jedoch, wie sich dieser Ansatz in den klinischen Alltag integrieren lässt, da jeder Physiotherapeut und jedes Konzept einerseits einen eigenen Weg in der Diagnostik als auch in der Behandlung betreiben. Als primär nach dem Maitland-Konzept arbeitende Kliniker finden wir die Protokollprofile durchaus nützlich. Allerdings fehlen uns persönlich bei diesen einige wichtige Informationen, wie z. B. eine Körpertabelle und das Verhalten der Symptome:

Hat ein Patient beispielsweise bei der horizontalen Flexion Schmerzen auf der dorsalen Seite, besteht eine andere Hypothese, als bei ventralen Symptomen. Patienten mit Symptomen bei Flexion würden wir anders behandeln als solche mit Symptomen bei einer Hand-auf-Rücken-Bewegung. Somit haben Symptomlokalisation und das Verhalten der Symptome direkten Einfluss auf das Vorgehen bei Untersuchung und Behandlung.

Sie schreiben: „Nach Ausschluss zervikaler und neurologischer Ursachen für die Schulterschmerzen wird die Schulter inspiziert.“ Wie genau schließen Sie die beiden Ursachen aus und zu welchem Zeitpunkt? Uns begegnen häufig Patienten mit Schulterschmerzen, die ergänzend die Schulterfunktion beeinflussende zervikale, thorakale oder/und kostale Dysfunktionen aufweisen. Somit fragen wir uns, ob im Schulternetzwerk Deutschland (SND) die Untersuchung und Behandlung von weiteren Quellen und beitragenden Faktoren Berücksichtigung finden. Auch Lähmungen des N. thoracicus longus oder N. suprascapularis sind bei Patienten mit Schulterschmerzen nicht selten. Wie werden diese Patienten im SND berücksichtigt?

Wenn wir es richtig verstehen, führen Sie Ihre Art der dynamischen Untersuchung (Inspektion und Beurteilung der aktiven Bewegungen) standardmäßig bei allen Patienten durch. Wie verfahren Sie bei Patienten mit starken oder irritierbaren Schmerzen? Passen Sie die Intensität der Untersuchung an die individuellen Patienten an?

Uns gefällt die 24-Stunden-Regel sehr gut, um die Stärke und Irritierbarkeit einzuschätzen. Die Eimer-Metapher halten wir für eine nützliche Strategie, um Patienten zu erklären, wie Beschwerden entstehen, was sie dagegen unternehmen können oder auch warum diese nicht oder nur langsam besser werden.

Die vorgestellte Klassifikation in Abb. 9 deckt sich in etwa mit den klinischen Gruppen, wie sie in Kursen der IMTA (Manuelle Therapie nach dem Maitland-Konzept) unterrichtet wird; hier sehen wir einige Gemeinsamkeiten. Ihr Vorgehen mit symptommodifizierenden Bewegungen ist klinisch nützlich, und auch eine logische Konsequenz aus den Testergebnissen ist aus Abb. 9 ersichtlich.

Als Behandlungsvorschlag empfehlen Sie Manipulationen am glenohumeralen und akromioklavikularen Gelenk. Gibt es hierfür Evidenz? Unseres Wissens ist die Wirkweise für Manipulationen auf neurophysiologische, spinale, supraspinale und viele weitere Mechanismen zurückzuführen, die lediglich bei Wirbelsäulenmanipulationen und nicht in peripheren Gelenken messbar sind. Wir sehen die Wirkung von Manipulationen an peripheren Gelenken daher kritisch.

Leider liefert der Artikel wenig Aussagen über die Parameter der Übungs- und Trainingstherapie. Es gibt jedoch gute Evidenz zu Übungstherapie bei Dysfunktionen der Rotatorenmanschette, die sich in der Praxis als wirksam erwiesen haben.

Der Artikel bietet eine nützliche Zusammenfassung von Diagnosegruppen. Um diesen mehrdimensionalen Ansatz in der klinischen Praxis mit großer Reichweite zu implementieren, sehen wir allerdings folgende Hürden:

  • Nomenklatur: Hierbei unterscheiden sich die Konzepte innerhalb der Manuellen Therapie sehr stark, was wiederum zu Missverständnissen führen könnte.

  • Inhaltliche Aspekte der Anamnese: Lokalisation und 24-Stunden-Verhalten von Symptomen sind klinisch sehr nützlich.

  • Inhaltliche Aspekte und Intensität der körperlichen Untersuchung einschließlich der Interpretation unterschiedlicher Tests: Patienten mit starken Symptomen sollte anders untersucht werden als Patienten mit Symptomen, welche nur unter intensiver Belastung auftreten.

  • Behandlungsstrategien: z. B. periphere Manipulationen.

  • Therapeutische „Freiheit“: Vorgabe der Testauswahl bei der Untersuchung und Behandlungstechniken könnten kritisch werden, da jedes Konzept innerhalb der Manuellen Therapie seine eigenen „liebgewonnenen“ Techniken nutzt.

Haben Sie schon Ideen, wie sich SND-Vorgehen in Deutschland implementieren lässt? Wie ist eine große Therapeutengruppe erreichbar? Wie kann das Vorgehen für die einzelnen Therapeuten zugänglich gemacht werden? Benötigt es für die Mitarbeit eine gewisse Qualifikation, wie z. B. eine OM(P)T-Weiterbildung oder andere Schulungen?

Die Patiententerminierung von einer Stunde pro Woche ist aufgrund der Bestimmungen des Heilmittelkatalogs nicht möglich. Weiterhin wird es schwierig werden, Ärzte und Kassen davon zu überzeugen, Physiotherapierezepte über einen Zeitraum von bis zu 24 Wochen zu verordnen und zu bezahlen. Stehen Sie hierzu in Kontakt mit Krankenkassen und ist möglichweise sogar eine Pilotstudie geplant, welche die Wirksamkeit gegenüber dem bisherigen Vorgehen vergleicht?

Wir freuen uns von Ihnen zu hören und liebe Grüße!



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
19. Dezember 2019

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