manuelletherapie 2019; 23(05): 200-201
DOI: 10.1055/a-1031-4542
Forum

„Forschungsergebnisse in die Praxis zu transferieren, ist oberstes Ziel“

Interview mit Heike Kubat und Elke Schulze, Autorinnen der 5-teiligen Fachwissen-Reihe „Testsequenzen für den Praktiker“ in der manuelletherapie
Arne Vielitz

Wie sind Sie auf die Idee gekommen ein eigenes Konzept zu erstellen?

Durch die fortschreitende Fachspezialisierung bei Ärzten wie auch bei Physiotherapeuten entstand ein Vakuum bei Patientengruppen/Erkrankungen, die nicht mehr genügend vielschichtig betrachtet wurden. So gut die Spezialisierung ist, hat sie dennoch auch ihre Tücken. Dies ist bei Dysfunktionen in der kraniozervikalen Region auffällig. So spezialisierten sich die einen Therapeuten in Richtung vestibuläre Rehabilitation, die anderen beschäftigten sich vermehrt mit der kraniomandibulären Region und die nächsten mit manualtherapeutischen Überlegungen bezüglich der HWS bei Kopfschmerzen oder nach Schleudertrauma.Da sich unser manualtherapeutisches Wissen als nicht ausreichend zeigte, entstanden Synergien mit anderen zuständigen Bereichen. Dadurch erst konnten zervikogene Auslöser für Schwindel von anderen wie okulomotorischen oder vestibulären Defiziten differenziert oder die vielschichtige Entität des Schleudertraumas angegangen werden. Bei einer episodischen Migräne ist das Kiefergelenk zu 70 %, bei einer chronischen Migräne zu 100 % mitbeteiligt. Die Notwendigkeit, alle zuständigen Gebiete einzuschließen, führte zur Entwicklung des CCS-Konzeptes.Ebenso kamen aus der Forschung mehr und mehr Resultate, die bestätigten, dass Physiotherapeuten in der Praxis diese Themen differenzierter angehen müssen. Der Transfer dieser Forschungsergebnisse in die Praxis ist oberstes Ziel des CCS-Konzepts. Dieses Wissen in die Praxis zu transferieren, heißt, es Patienten zugänglich zu machen. Dafür braucht es viele Therapeuten als Zwischenglied, die sich entsprechende Kenntnisse aneignen.

Untersuchen ist ja eigentlich keine Abrechnungsposition. Wie integrieren Sie das Untersuchen und die Tests in den Praxisalltag und was raten Sie Kollegen, die sich dafür immer noch zu wenig Zeit nehmen?

Insbesondere bei Menschen mit kraniozervikalen Symptomen ist ein differenziertes Untersuchen unabdingbar. Ohne eine genaue, detaillierte Anamnese, eine darauf aufbauende physische Untersuchung der Systembereiche mithilfe der entwickelten Testbatterie und eine entsprechende Auswertung ist keine adäquate Behandlung möglich. Wird ein Schwindel durch eine okulomotorische Störung, ein Problem im Innenohr oder neuromuskuloskelettale Strukturen der HWS ausgelöst? Müssen bei Patienten mit Kopfschmerzen eher ein sensomotorisches Training, eine Beeinflussung des Nervensystems oder eher Mobilisations- oder Kräftigungsübungen der HWS durchgeführt werden? Wurde im Vorfeld differenziert untersucht, kann auch eine differenzierte Behandlung erfolgen. Die Meinung, Patienten würden ein längeres Untersuchungsprozedere nicht tolerieren, steht im Gegensatz zu der praktischen Erfahrung, dass Patienten sehr froh über eine genaue, detaillierte Untersuchung sind. Dies schafft eine gute Vertrauensbasis, die den Behandlungseffekt positiv beeinflusst. Die Therapeuten gehen den Beschwerden auf den Grund und nehmen ihre Patienten ernst. Häufig erleben Patienten dies zum ersten Mal. Physiotherapeuten haben in der Regel mehr Zeit für eine ausführliche Untersuchung als die Hausärzte. Außerdem haben Physiotherapeuten die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum im Rahmen der Verordnung mit den Patienten zusammenzuarbeiten. Im Untersuchungs- und Behandlungsprozess kristallisiert sich auch heraus, wo die Patienten ihren Einsatz erbringen können.Gerade in der kraniozervikalen Region bedarf es einer differenzierten Untersuchung zum Erkennen von Red Flags – die Sicherheit der Patienten und damit der Therapeuten muss gewährleistet sein. Viele Therapeuten haben Bedenken, in dieser Region etwas Schwerwiegendes zu übersehen. Auch dafür müssen Testverfahren durchgeführt werden.Im Untersuchungsgang gilt es, den Zusammenhang mit dem symptomatischen Muster zu erkennen. Inwieweit können wir eine Migräneerkrankung beeinflussen? Wie viel können wir mit unseren Fähigkeiten beitragen? Wie können wir eine Prognose zur Symptomentwicklung ohne eine entsprechende Untersuchung aufstellen?

Wie halten Sie sich neben dem Praxisalltag auf dem Laufenden?

Unsere Patienten schulen uns täglich in der Reflexion über unser Tun. Dies wirft Fragen auf, die wir versuchen mittels der Wissenschaft nach einer evidenzbasierten Vorgehensweise zu beantworten. Neben dem Praxisalltag sind wir seit Jahrzehnten als Dozenten tätig, was unabdingbar noch einmal eine vertiefte Auseinandersetzung verlangt. Ein absolvierter Master-Studiengang verleiht die Fähigkeit, valide wissenschaftliche Aussagen zu treffen.

Nutzen Ärzte, die die Patienten zuweisen, die Testergebnisse?

Die detaillierten Testergebnisse aus der Testbatterie bilden in erster Linie die Grundlage für die erfolgreiche Therapie. Einige ausgewählte Ergebnisse aus den Retests hingegen dienen in der Zusammenarbeit mit Ärzten als Beleg für den Erfolg und werden insofern genutzt. Die interdisziplinäre Arbeit stellt ein Hauptanliegen des CCS-Konzepts dar. Ziel ist es weiterhin, Netzwerke zwischen Medizinern, Pharmakologen, Psychologen, Zahnärzten und Physiotherapeuten aufzubauen, die die Patienten vollumfänglich in einer Teamarbeit betreuen können. Dafür wurden Flyer entwickelt, die Ärzte über die Arbeit des CCS-Therapeuten informieren. Damit wird auch aufgezeigt, welche Systembereiche mittels entsprechender Testverfahren untersucht werden.Unsere Vision sind spezialisierte Therapeuten, die sich umfassend und vielschichtig mit den kraniozervikalen Beschwerden der Patienten auseinandersetzen. Es macht wenig Sinn, den Fokus nur auf ein Teilgebiet wie die vestibuläre Rehabilitation oder die Manuelle Therapie am Kiefergelenk zu legen. So beobachten wir z. B. auch in der Fachmedizin die unkoordinierte Betreuung mancher Patienten in Akutkliniken, durch Augenärzte, Neurologen, HNO-Ärzte, Orthopäden oder Kieferorthopäden. Kompetente Physiotherapeuten müssen immer mehr zum wichtigen Player bei der Betreuung von Patienten mit kraniozervikalen Symptomen werden. Auch wäre es wünschenswert, dass sich alle entsprechend spezialisierten Physiotherapeuten zusammen nach außen darstellen und interdisziplinäre Netzwerke bilden.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
19. Dezember 2019

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