PiD - Psychotherapie im Dialog 2020; 21(04): 14-15
DOI: 10.1055/a-0987-6116
Editorial

„Wann ist ein Mann ein Mann?“

Michael Broda
,
Christoph Flückiger

Im Beruf erfolgreich, in der Familie ein Fels in der Brandung, liebe-, rücksichtsvoll und sensibel, sportlich aktiv und sozial engagiert, zu intensiven Gesprächen fähig, humorvoll und durchsetzungsstark, dabei sich Schwächen erlaubend und ab und zu anlehnungsbedürftig, emotional ausdrucksstark, dabei kultiviert und zielorientiert, konfliktfähig und romantisch, vielseitig interessiert und nicht unvermögend …

In einer Kontaktanzeige (so sagten wir früher zu Dating-Portalen) wäre dies wahrscheinlich ein Angebot mit der Chance auf viele interessierte Reaktionen – aber, nüchtern betrachtet: Was für ein anspruchsvoll erscheinendes Anforderungsprofil! Seit Jahren werden in der öffentlichen Diskussion Fragmente einer neuen Vorstellung von Männlichkeit diskutiert – manche dieser Attribute finden sich oben wieder. Kann das aber die neue Rollenorientierung für Männer sein? Vielerorts bekommt man den Eindruck, die Diskussionen über eine veränderte männliche Rolle lassen bei manchen Betroffenen Ängste und Unsicherheiten entstehen. Gefragt und gewollt sind plötzlich emotionale Intelligenz, Empathie und kommunikative Fähigkeiten. Aber all dies zusätzlich zu Tat- und Entscheidungskraft, Zielorientierung und Durchsetzungsvermögen? Der gesellschaftliche „Trend“ scheint in diese Richtung zu gehen: Traditionelle Männlichkeit wird dann vertretbarer, wenn diese anderen Fähigkeiten ebenfalls beherrscht werden. Aber hieße das nicht automatisch, jetzt neben den herkömmlichen männlichen Strategien noch ein Repertoire an Soft Skills aufzubauen, um sich die traditionellen Machtpositionen weiterhin – aber nur sozial verträglicher – zu sichern?

Me-too hat zu einer längst überfälligen öffentlichen Sensibilisierung auch für sublime sexuelle Gewalt geführt. Aber ehrlich gesagt: Harvey Weinstein ist weit entfernt, und man wird ja wohl noch ein Kompliment wegen des schicken Kleides der jungen Kollegin machen dürfen…? Manche unserer männlichen Patienten begreifen nicht, warum plötzlich Blondinen-Witze oder zotige Bemerkungen für Empörung sorgen, weil sie es gewöhnt waren, dafür Anerkennung und Zustimmung zu bekommen. Ehen kriseln, weil Frauen (zurecht) eine faire Lasten- und Arbeitsverteilung einfordern. Zwar sehen wir mehr Väter mit Kinderwägen, aber die Zeiten in Anspruch genommenen Erziehungsurlaubs sind immer noch sehr ungleich verteilt. Und zurecht wird ein gesellschaftlicher Diskurs darüber geführt, wie viele Vorstandsposten in DAX-Unternehmen von Frauen besetzt sind, wie Listen der Parteien bei Wahlen zusammengestellt werden und warum die Zentren der Macht männlich sein müssen. Männer zahlen aber andererseits auch einen hohen Preis für ihre traditionellen Männlichkeitsideale: Deutlich verkürzte Lebenserwartung, höhere Suizidraten, mehr Nikotin-, Alkohol- und Drogenabhängigkeit, mehr Obdachlosigkeit, eine höhere Gewaltbereitschaft. Dies ist ein lang bekannter Umstand, den wir hier nur erwähnen wollen.

In der in den letzten Jahren wieder verstärkt geführten Genderdebatte wird beklagt, dass nach dem als toxisch bezeichneten Männerbild eine neue Konstruktion von Männlichkeit und Mann-sein fehle und dadurch die Rollenunsicherheit vieler Männer begründet sei. Was kommt nach dem Marlboro-Cowboy? Welches Männerbild erscheint uns denn gesellschaftlich passend, einen Beitrag zur einer wirklichen Geschlechtergerechtigkeit zu leisten?



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Article published online:
20 November 2020

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